: Noppert: Vom Versager zum Volkshelden
von Frank Hellmann, Doha
09.12.2022 | 06:48 UhrVielleicht stehen bei dieser Fußball-WM nirgendwo so viele Absperrgitter und Wachposten wie im Trainingscamp der Niederlande, das sich in Doha auf einem begrünten Areal des riesigen Geländes der Qatar University befindet. Viel Baumwerk umgibt den Trainingsplatz sechs, alle paar Meter steht ein Aufpasser.
Einer wie Andries Noppert, imposante 2,03 Meter groß, könnte trotzdem einen Blick über die Sichtschutzplanen werfen, aber als niederländischer Nationaltorwart bildete er zusammen mit Virgil van Dijk ja die Abordnung, um im Medienzelt nebenan über das WM-Viertelfinale zwischen Niederlande und Argentinien (Freitag 20 Uhr) zu sprechen.
Wer stoppt Lionel Messi?
Die beiden Funktürme vor dem Aufeinandertreffen mit dem bisweilen despektierlich als "Zwerg" bezeichneten Lionel Messi zu entsenden, bot sich irgendwie an. Vor wenigen Wochen wäre eine solche Besetzung vor einer Begegnung von historischer Dimension undenkbar gewesen. Klar, van Dijk, seit Jahren Leistungsträger beim FC Liverpool, wäre bei jedem Trainer der Welt gesetzt gewesen, aber Noppert ist erst seit einem Jahr Stammtorwart beim SC Heerenveen.
WM-Duell mit viel Geschichte
Schon zum sechsten Mal treffen die Niederlande und Argentinien bei einer Fußball-Weltmeisterschaft aufeinander. sportstudio.de blickt zurück auf die bisherigen Auflagen dieses Klassikers.
1974 - Zwischenrunde
Bei der WM 1974 in Deutschland messen sich die beiden Nationen überhaupt erst zum zweiten Mal. Ein Testspiel kurz vor der Weltmeisterschaft hatten die Niederländer mit 4:1 gewonnen, im Turnier machen es Johan Cruyff und Kollegen noch klarer: Zum Auftakt der zweiten Gruppenphase heißt es 4:0 in Gelsenkirchen für die Elftal, die mit "total voetbal" begeistert und sich zum Titelfavoriten aufschwingt. Cruyff trifft doppelt, die beiden anderen Tore gegen die überforderten Südamerikaner steuern Ruud Krol und Johnny Rep bei. Argentinien scheidet in der zweiten Runde aus, die Niederländer erreichen erstmals das WM-Endspiel - wo sie in München den gastgebenden Deutschen 1:2 unterliegen.
1978 - Endspiel
Gastgeber Argentinien und Vizeweltmeister Niederlande bestreiten 1978 das Finale in Buenos Aires, und schon vor dem Anpfiff gibt es Streit: Die Argentinier um Kapitän Daniel Passarella beanstanden bei Schiedsrichter Sergio Gonella die Gipsmanschette, die René van de Kerckhof nach einem Bruch seines Handgelenks im ersten Spiel gegen den Iran im weiteren Verlauf des Turniers trägt. Bis zum Finale hatte kein Referee etwas dagegen einzuwenden, Gonella aber schickt van de Kerkhof zurück in die Kabine, wo er die Manschette mit Stoff und Verband umwickeln muss.
Als dann Spiel dann endlich läuft, entwickelt sich ein packender Fight, in dem die Niederländer die argentinische Führung durch Mario Kempes (38.) erst in der 82. Minute in Gestalt von Dick Nanninga ausgleichen. Kurz vor dem Abpfiff scheitert Rob Rensenbrink am Pfosten, in der Verlängerung haben dann die Südamerikaner das bessere Ende für sich: Der neue Volksheld Kempes (105.) und Daniel Bertoni treffen zum 3:1-Sieg für die Elf von Cesar Luis Menotti, die Argentinien damit den ersten Weltmeistertitel beschert.
1998 - Viertelfinale
Das Aufeinandertreffen in der Runde der letzten Acht bei der WM 1998 in Frankreich wird auf ewig untrennbar verbunden sein mit dem Namen Dennis Bergkamp. Vor 55.000 Zuschauern in Marseille steht es nach Toren von Patrick Kluivert und Claudio Lopez 1:1, als in der Schlussminute Frank de Boer einen 60-Meter-Pass auf Bergkamp schlägt. Der Stürmer nimmt den Ball elegant aus der Luft, lässt einen Verteidiger stehen und schließt überlegt zum 2:1-Siegtreffer für die Niederländer ab. Für Bergkamp und Co. ist eine Runde später Schluss, im Halbfinale unterliegt man Brasilien im Elfmeterschießen.
2006 - Gruppenphase
Beide Teams haben sich bei der WM 2006 in Deutschland in der "Todesgruppe" C behauptet, nach Siegen gegen die Elfenbeinbüste sowie Serbien und Montenegro stehen sowohl die Niederlande als auch Argentinien schon sicher in der K.o.-Runde. Dementsprechend fade gerät das Aufeinandertreffen in Frankfurt, am Ende steht ein torloses 0:0. Die Niederländer scheitern schon im Achtelfinale an Portugal, für Argentinien ist im Viertelfinale Endstation bei der Niederlage im Elfmeterschießen gegen Deutschland.
2014 - Halbfinale
Louis van Gaal gilt als genialer Taktikfuchs, doch beim Halbfinale der WM 2014 in Brasilien fällt ihm ein eigener Schachzug vor die Füße: Im Viertelfinale gegen Costa Rica hatte van Gaal seinen Torhüter Jasper Cillessen für das Elfmeterschießen gegen Tim Krul ersetzt. Im Elfmeterschießen avanciert Krul zum Matchwinner. Auch gegen Argentinien müssen die Niederländer ins Elfmeterschießen, doch dieses Mal kann van Gaal nicht den Keeper wechseln, das Kontingent ist erschöpft. Der verunsichert wirkende Cillessen pariert in San Paulo keinen einzigen Schuss, anders als sein Gegenüber Sergio Romero. Der argentinische Schlussmann wehrt gegen Ron Vlaar und Wesley Snejder ab, die Argentinier siegen 4:2 und ziehen ins Finale ein, wo sie den Deutschen mit 0:1 unterliegen.
Er kam mit null Länderspielen zur WM, auf dem Zettel als Nummer eins dieser stolzen Fußball-Nation hatte ihn niemand. Mit einer Ausnahme, wie der Schlussmann selbst sagte: "Es gibt nur einen Trainer, der mich hierher bringen konnte: Das ist unser Bondscoach."
Louis van Gaal hat wieder mal Mut bewiesen
Der 28-jährige Noppert weiß eben zu gut, wem er seinen neuen Status zu verdanken hat: Ohne die Eigenwilligkeit eines Louis van Gaal, der sich beim FC Bayern bekanntlich gegen die Verpflichtung von Manuel Neuer aussprach, weil es doch einen Thomas Kraft gäbe, wäre der unverhoffte Aufstieg nicht zustande gekommen.
"Ich habe als Junge auch davon geträumt. Aber wenn Sie meine Karriere sehen, werden Sie wissen, dass ich diesen Traum längst aufgegeben hatte", erklärte Noppert.
Seine Vita ist eine der ungewöhnlichsten dieses Turniers. Der lange als Nummer eins geführte Jasper Cillessen (NEC Nijmegen) oder der von Gaal auch schon ausprobierten Mark Flekken (SC Freiburg) haben es nicht mal in den Kader geschafft. Dafür reiste einer nach Katar, den vor zwei, drei Jahren nicht mal mehr Zweitligisten wie Calcio Foggia oder FC Dordrecht beschäftigen wollten. Aus Italien hieß es, dieser Keeper würde zu viel rauchen und trinken.
Elterlicher Rat: Werde Polizist
Verbürgt ist, dass ihm die Eltern bereits rieten, sich für ein geregeltes Leben besser bei der Polizei zu bewerben. Großer Kerl, grimmiger Blick - dazu Hände, die zupacken können. So einer kann doch auch als Ordnungshüter was werden?
Gestern noch Versager, heute Volksheld - das geht im Fußball rasch. "Turm von Joure" nennen sie ihn wegen seinem Geburtsort in der Nähe von Heerenveen, wo sie gerade jede Aktion des Hünen feiern. Er selbst hat zuletzt gegen die USA (3:1) nach jeder Parade den Ball ausgesprochen lange unter seinem riesigen Körper begraben. Als ob er sich damit an etwas festkrallen wolle.
Erst zwei Gegentore für die Elftal
Noppert treibt dasselbe an wie seine Vorderleute, die sich in der Wüste auf einer Mission befinden: Nichts weniger als der erste WM-Titel für die Niederlande soll es werden. "Vor mir spielen die besten Verteidiger der Welt", sagt Noppert. Ganz zwei Gegentore hat die bestens organisierte Elftal erst kassiert.
Argentinien wird viel Kreativität und einige Geduld benötigen, um den Oranje-Block zu überwinden. Selbst wenn es einen Elfmeter geben würde - oder zum Elfmeterschießen kommen würde - hätte der WM-Neuling keine Angst. Lionel Messi solle ruhig antreten. "Ich bin bereit dafür. Er ist auch nur ein Mensch. Natürlich kann ich einen Elfmeter von ihm halten." Der lange Wachposten zwischen den Pfosten hat offenkundig schon einen Plan, wie dies gelingen kann.