: Videobeweis: "Emotionalität wird zerstört"

von Torben Heine
03.07.2024 | 17:27 Uhr
Der Videobeweis ist aus dem Profifußball nicht mehr wegzudenken - und mit ihm die Debatte um seinen Einsatz. Laut Fanforscher Lange macht der VAR zu viel kaputt - und muss weg.
Videobeweis im Fußball: "Die Emotionalität wird zerstört" (Symbolfoto).Quelle: Imago
"Aus meiner Sicht gehört der Videobeweis ersatzlos abgeschafft, wenn man es mit den Emotionen, mit dem Stadionerlebnis, mit dem Spiel an sich ernst meint." Fanforscher Harald Lange von der Julius-Maximilians-Universität Würzburg hat lange mit dem Video Assistant Referee (VAR) im Profifußball gerungen. Jetzt legt er sich fest.
Überprüfungen kritischer Torraumszenen, möglicher Abseitsstellungen in der Entstehung eines Tores oder vermeintlicher Fouls im Strafraum sollen den Sport fairer machen. Aus Langes Sicht aber verhindern sie vor allem eines: Authentizität.

Zur Person

Quelle: ZDF
Prof. Dr. Harald Lange, 55, ist der Leiter der Fan- und Fußballforschung am Institut für Sportwissenschaft der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Er hat mehr als 50 Bücher veröffentlicht.

VAR entscheidend bei deutschem EM-Sieg gegen Dänemark

Es läuft die 48. Spielminute im Achtelfinale der Europameisterschaft zwischen Deutschland und Dänemark. Beim Stand von 0:0 kann die deutsche Hintermannschaft den Ball nach einer dänischen Halbfeldflanke nicht aus dem Strafraum klären. Am Ende trifft Joachim Andersen ins deutsche Tor - die Dänen führen, ein Schock für Zehntausende Fans der DFB-Elf im Stadion und Millionen vor den Bildschirmen.
Aber Schiedsrichter Michael Oliver bekommt ein Signal aufs Ohr, der Videoschiedsrichter greift ein. Es dauert fast zwei Minuten, bis die Entscheidung steht: Kein Tor für Dänemark. Das deutsche Publikum bejubelt die sehr knappe Abseitsentscheidung.

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Nur etwa eine Minute später trifft der Ball eben jenen Andersen im eigenen Strafraum an der Hand. Die deutschen Proteste halten sich in Grenzen, dennoch unterbricht der Schiedsrichter auch hier wenig später. Es folgen: Goal-Check, Handelfmeter, Tor für Deutschland. Innerhalb von fünf Minuten führt nach zwei Einsätzen des Videobeweises nicht Dänemark, sondern das DFB-Team.

Videobeweis: "Moment der Freude unter Vorbehalt"

"Natürlich freut man sich da", räumt Harald Lange ein. "Aber selbst da ist der Moment der Freude unter Vorbehalt." Mit dem unmittelbaren Emotionsausbruch nach einem regulären Tor sei diese Freude nach einer Entscheidung des Videoschiedsrichters nicht vergleichbar.
Der Fanforscher beschreibt das so: "Die zeitliche Unmittelbarkeit des Spielgeschehens ist gestört. Und damit ist auch das Erleben für die Fans und Zuschauer dieses unmittelbaren Spielgeschehens gestört." Beim Jubeln habe man als Fan mittlerweile immer die Möglichkeit im Hinterkopf, dass etwas durch den VAR überprüft werden könnte.
Man hat durch diesen Videobeweis den Hebel an der Emotionalität des Fußballs angelegt.
Harald Lange, Fan- und Fußballforschung an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Für Lange stellt sich daher eine Grundfrage. Der Gewinn an Sachlichkeit, den der Videobeweis bringen soll, gehe auf Kosten von Emotionalität und Situativität. Daher müsse man abwägen: "Beides kann man nicht haben", so der Forscher.

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VAR aus dem Profifußball schwer wegzudenken

Nun gibt es den Videobeweis, in verschiedenen Formen, schon seit einigen Jahren. Die EM 2024 ist bereits die zweite Europameisterschaft, bei der der europäische Verband Uefa auf die Technik setzt. In der Entwicklung sieht Lange auch durchaus richtige Schritte. Wirkten VAR-Eingriffe zu Beginn noch wie teils schwer nachvollziehbare "Blackbox-Entscheidungen", würden diese mittlerweile für das Stadion- und Fernsehpublikum transparenter gemacht.
Doch auch dieser Verbesserungsversuch schaffe neue Problemlagen: "Dieses Erklären erfordert Zeit, kostet Abstand zum Ereignis und egal, wie viel da erklärt wird: Die Emotionalität wird zerstört", so Lange. "Es ist also ein künstliches Problem, was wir nicht haben würden, wenn wir nicht auf die Idee gekommen wären, diesen Videobeweis so einzuführen."
Die Emotionalität ist das Tafelsilber des Fußballs. Und da würde ich, auch aus wirtschaftlichen Gründen, den Verbänden raten: Kratzt niemals daran, macht das Spiel niemals wertloser.
Harald Lange, Fan- und Fußballforschung an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Lange sehe ein, dass das Versprechen der Technologie, einen faireren Fußball zu schaffen, verlockend sei. Dieses Narrativ sei für ihn jedoch nicht belegt.

Lange glaubt nicht an zeitnahe VAR-Abschaffung

Er gehe daher davon aus, dass Verbände und Befürworter der Technik auch künftig weiter an einer Perfektionierung des VAR arbeiten werden. So lange, bis auch sie einsähen: Neue Lösungen bringen mehr Komplexität und nehmen weitere Emotionen aus dem Spiel.
Irgendwann müssten, so hofft Lange, auch die Verbände einräumen: "Leute, das kriegen wir einfach nicht hin." Bis dahin, vermutet er, dauert es aber noch mindestens zwei Jahrzehnte.

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