: Trauma ist auch nach zehn Jahren noch da
von Heiko Oldörp, Boston
15.04.2023 | 04:35 UhrEs ist wieder Marathon-Zeit in Boston - unübersehbar in der ganzen Stadt. Knapp 30.000 Läuferinnen und Läufer werden die 42,195 Kilometer von Hopkinton hinein ins Herz der Massachusetts-Metropole zurücklegen - wie jedes Jahr am dritten Montag im April.
Doch diesmal geht es nicht nur um die 127. Auflage des ältesten Städte-Marathons der Welt, sondern auch um den zehnten Jahrestag des Bomben-Anschlags. 3.652 Tage sind seit dem 15. April 2013 vergangen. Viele Wunden sind geheilt, aber "Narben bleiben ein Jahrzehnt später", schreibt "The Harvard Gazette".
Familie Richard: Sohn stirbt, Eltern und Schwester verletzt
Die ganze Familie von Denise und Bill Richard wurde an diesem Tag vom Terror getroffen. Die Eltern standen mit ihren drei Kindern an der Boylston Street, rund 150 Meter vor der Ziellinie. Was niemand ahnte: in einem Rucksack, nur wenige Meter entfernt, befand sich ein selbstgebauter Sprengsatz.
Der achtjährige Martin starb durch die Explosion. Die siebenjährige Jane verlor ihren linken Unterschenkel, Mutter Denise einen Teil ihrer Sehkraft im rechten Auge. Vater Bill hat bis heute Probleme beim Hören und leidet an Tinitus. Lediglich der damals elfjährige Henry kam physisch unversehrt davon, kämpft aber immer noch damit, das Erlebte zu verarbeiten.
Mehr als zehn Operationen in 39 Tagen
Die heute 17-jährige Jane Richard sagte dem "Boston Globe":
Immer, wenn ich meine Beinprothese anlege, denke ich daran, was passiert ist.
Jane kann sich noch an die Explosion erinnern. Daran, dass sie in einem Krankenwagen aufwachte. Und auch an die 14 Operationen in 39 Tagen.
Erinnerungen an ihren Bruder Martin hat sie hingegen keine mehr. Und auch nicht daran, wie ihr Leben ohne Prothese war. Henry wird am Montag, wie im Vorjahr, den Marathon laufen. Erneut für das Team, dessen Name sich aus den Initialen und dem Alter seines Bruders zusammensetzt:"MR8".
Denkmäler in Boston für die vier Todesopfer
Seit 2019 gibt es zwei Denkmäler an den Stellen, an denen die Bomben explodierten. Es sind vier gläserne, zirka sechs Meter hohe Stäbe, die nachts beleuchtet werden. Ein Stab für jedes Opfer. Neben Martin Richard starben zwei junge Frauen. Ein Polizist wurde in der Nacht vom 18. auf den 19. April das vierte Opfer von Tamerlan und Dschochar Zarnajew. Die Brüder hatten ihn in seinem Wagen erschossen.
Die Familien der Opfer werden am Samstag vor dem Marathon im Rahmen einer privaten Zusammenkunft Kränze an den Denkmälern niederlegen. Nachmittags gibt es im Zielbereich des Marathons eine öffentliche Gedenkveranstaltung an die schrecklichen Ereignisse vor zehn Jahren.
Bombenanschläge beendeten jäh ein fröhliches Volksfest
Es war ein wunderschöner Frühlingstag, dieser 15. April 2013. Der Himmel blau, die Stimmung prächtig. Marathon-Montag, das ist in Massachusetts der Patriots Day - ein offizieller Feiertag. Die Rennuhr über der Ziellinie zeigte 4 Stunden, 9 Minuten und 44 Sekunden an, als auf der linken Seite, wenige Meter vor dem blau-gelben Schlussstrich, die erste Bombe explodierte. Zwölf Sekunden später folgte rund 130 Meter entfernt eine zweite Detonation.
Aus Jubel und Anfeuerungsrufen wurden Schreie voller Angst und Verzweiflung. Das fröhliche Volksfest endete mit einer Tragödie. Es folgten eine 101-stündige Jagd auf die Attentäter, eine nächtliche Schießerei, bei der Tamerlan Zarnajew ums Leben kam, eine Ausgangssperre in Boston und schließlich die Verhaftung von Dschochar Zarnajew am 19. April.
All das gibt es in einer Netflix-Dokumentation anlässlich des zehnten Jahrestages des Attentats zu sehen. "Der Terror, der eine Stadt in Atem hielt" soll darin beleuchtet werden. Die Tränen sind getrocknet, viele Wunden verheilt - aber richtig Ruhe kehrt trotzdem nicht ein.