: Ex-Wirecard-Chef vor Gericht - Packt er aus?

08.12.2022 | 06:19 Uhr
Wird Markus Braun über den Wirecard-Skandal auspacken? Er hat nun die Möglichkeit, den größten Skandal der deutschen Wirtschaftsgeschichte aufzuklären.
Egal, ob Markus Braun spricht oder nicht - der Prozess gegen ihn und zwei frühere Manager im Landgericht München 1 wird sich ganz zentral auch um das Miteinander bei Wirecard drehen. Denn dass in dem Konzern lange unverborgen so betrügerisch agiert werden konnte, wird auch dem 18 Jahre an der Spitze stehenden Braun und dessen Führungsverständnis zugeschrieben.
Von einem "System nach dem Prinzip 'teile und herrsche'" berichtete die Münchner Staatsanwaltschaft, von einem "militärisch-kameradschaftlichen Korpsgeist und Treueschwüren" sowie von psychischem Druck. Hinter all dem soll der frühere Vorstandschef mit seiner als kühl beschriebenen Art der Menschenführung stehen.
Für Braun steht jetzt das dritte Weihnachtsfest an, das er in Untersuchungshaft verbringen muss. 2020 ließ ihn die Staatsanwaltschaft festnehmen. Nach erfolglosen Haftbeschwerden blieb er im Gefängnis.

Einst hatte Braun das beste Image aller Dax-Firmenchefs

Der tiefe Fall des Markus Braun lässt sich an einer Episode gut darstellen: Anfang 2019 wurde ihm von einer Fachagentur auf Grundlage der Auswertung von Presseberichterstattung das beste Image aller Vorstandschefs der damals noch 30 Dax-Konzerne zugeschrieben. Doch das positive öffentliche Bild kehrte sich ins Gegenteil mit dem Bekanntwerden der Scheingeschäfte, die die Bosse von Wirecard in Milliardenhöhe verbucht haben sollen.
Über Braun sind nur grobe Züge seiner Vita bekannt, er legte einen hohen Wert auf Diskretion. Der Österreicher kam 1969 in Wien zur Welt, allgemein angenommen als Geburtsdatum wird der 5. November - ob dies auch tatsächlich so ist, wird sich wohl erst vor dem Münchner Landgericht erweisen.
Braun studierte Wirtschaftsinformatik in Wien und promovierte dort auch parallel zu seiner ersten beruflichen Station bei einer Unternehmensberatung. Seine erste Station in Deutschland war in München die Unternehmensberatung KPMG, bevor Braun dann bei der InfoGenie AG landete.

Der Wirecard-Skandal rückt die großen Wirtschaftsprüfungsunternehmen in den Fokus. Mit ihren Abschlussprüfungen sollen sie Vertrauen in die Unternehmen schaffen. Trügt der Schein?

12.11.2021 | 43:36 min

Braun wird Wirecard-Chef mit Anfang 30

Braun behauptete sich als Krisenmanager bei InfoGenie und blieb auch, als dieses mit Wire Card fusionierte und schließlich zu Wirecard wurde. Schon 2002, also mit gerade mal Anfang 30, wurde er Vorstandschef. Weil er sich schon in den Jahren davor auf digitale Bezahlverfahren spezialisiert hatte, galt er als ideale Besetzung.

Hintergrund zum Wirecard-Skandal

Eine Recherche der Financial Times deckte Anfang Februar 2019 auf, dass Wirecard-Mitarbeiter in Singapur Kunden und Umsätze erfunden hätten, um eine Geschäftslizenz in Hongkong zu erhalten und die Ertragsziele von Wirecard zu erreichen. Im Oktober erneuerten Berichte der Financial Times den Vorwurf der Manipulation bei Wirecard. Interne Unterlagen würden nahelegen, dass Wirecard zu hohe Umsätze und Gewinne bei Tochtergesellschaften angegeben habe.

Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG wurde von Wirecard mit einer Sonderprüfung beauftragt. Das Ergebnis der KPMG-Untersuchung wurde Ende April 2020 veröffentlicht. Danach konnten nicht alle Daten vollständig ausgewertet und somit die Vorwürfe nicht völlig ausgeräumt werden. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) erstattete Anfang Juni 2020 wegen Verdacht auf Marktmanipulation Anzeige, dieses Mal gegen den Vorstandsvorsitzenden Braun und drei weitere Vorstandsmitglieder; die Staatsanwaltschaft ließ die Geschäftsräume von Wirecard durchsuchen. Die Wirtschaftsprüfung EY hatte die mutmaßlich gefälschten Bilanzen des früheren Dax-Konzerns über Jahre testiert.

Mit der Zahlungsabwicklung für Pornoseiten und Glücksspiele konnte sich das Unternehmen etablieren. Später behauptete Braun, das schmuddelig klingende Geschäft spiele praktisch keine Rolle mehr. Er wollte den Dax-Konzern als sauberen Vorzeigekonzern darstellen. Persönlich unterhielt er enge Kontakte in die Politik, den mittlerweile unter Korruptionsverdacht stehenden früheren österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz beriet er, beide duzten sich.
Der frühere Wirecard-Chef hat also viel zu erzählen - ob er das will und auspacken wird, dürfte sich schon bald zeigen.

Der Fall Wirecard: Vom Börsenliebling zum Prozess

1999 - Wirecard wird gegründet

Wirecard wird in München gegründet und konzentriert sich schnell auf den Zahlungsverkehr im Internet. Zu den ersten Kunden gehören vor allem Kasinos und Pornoseiten. Wirecard legt in den folgenden Jahren - zumindest nach außen - ein spektakuläres Wachstum hin.

2015 - Zeitung weist auf Ungereimtheiten hin

April: Die "Financial Times" (FT) beginnt eine Artikelserie mit dem Namen "House of Wirecard", in der sie auf Ungereimtheiten hinweist. Im Laufe der Jahre werden die Vorwürfe immer konkreter.

2016 - BaFin erstattet Strafanzeige gegen Perring

Februar: Die von dem Börsenspekulanten Fraser Perring betriebene Firma Zatarra Research wirft Wirecard in einer im Internet verbreiteten Analyse betrügerische Machenschaften vor.

März: Die deutsche Finanzaufsichtsbehörde BaFin nimmt Perring und andere Investoren, die mit Leerverkäufen auf einen Absturz der Wirecard-Aktie gewettet hatten, wegen des Verdachts der Marktmanipulation ins Visier.

Mai: Die BaFin erstattet Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft München wegen möglicher Marktmanipulationen gegen Perring und andere Investoren.

2017 - BaFin untersucht Kreditgeschäft der Wirecard Bank

Februar: BaFin und Bundesbank prüfen, ob die Muttergesellschaft Wirecard AG als Finanzholding einzustufen ist. Ergebnis: Nein. Damit hat die Finanzaufsicht keinen Zugriff auf den Gesamtkonzern, nur auf die Wirecard Bank. Die EZB stimmt dieser Einschätzung später zu.

2018 - Wirecard verdrängt Commerzbank aus dem Dax

September: Wirecard verdrängt die Commerzbank aus dem Dax. Die Aktie steigt auf ein Rekordhoch von 199 Euro, der Börsenwert klettert auf fast 25 Milliarden Euro. Damit ist sie zu diesem Zeitpunkt mehr wert als die Deutsche Bank.

2019 - BaFin beauftragt Prüfer, Scholz wird informiert

Januar: Die "Financial Times" erhebt neue Vorwürfe gegen Wirecard. Es geht um mögliche Geldwäsche und Kontenfälschung in Asien, in die ein Wirecard-Manager in Singapur verwickelt sein soll. Weitere Artikel mit Vorwürfen der Bilanzfälschung gegen den Konzern folgen.

Februar: Die BaFin eröffnet eine Untersuchung im Zusammenhang mit der Berichterstattung. Sie nimmt Leerverkäufer, Journalisten und Verantwortliche von Wirecard wegen des Verdachts der Marktmanipulation und falscher beziehungsweise irreführender Angaben in der Finanzberichterstattung der Wirecard AG ins Visier.

15. Februar: Die BaFin beauftragt die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) mit einer Analyse der Wirecard-Bilanz.

18. Februar: Mit einem Leerverkaufsverbot untersagt die BaFin für zwei Monate Wetten auf Kursverluste der Wirecard-Aktie - ein einmaliger Vorgang.

19. Februar: Bundesfinanzminister Olaf Scholz wird informiert. Dem SPD-Politiker wird gesagt, dass die BaFin in alle Richtungen wegen Marktmanipulation ermittelt - also auch gegen Verantwortliche der Wirecard AG - und dass die DPR möglichen Bilanzunregelmäßigkeiten nachgeht.

10. April: Die BaFin erstattet Anzeige gegen zwei FT-Journalisten und Investoren wegen des Verdachts der Marktmanipulation.

15. April: Die BaFin brummt der Wirecard AG ein Bußgeld in Höhe von 1,52 Millionen Euro auf. Grund: verspätete Veröffentlichung von Geschäftsberichten.

24. April: Wirecard gewinnt den Telekommunikations- und Internet-Konzern Softbank als strategischen Partner. Das Bündnis mit dem renommierten japanischen Investor lässt Zweifel an dem deutschen Zahlungsabwickler in den Hintergrund treten.

18. Juni: Auf der Hauptversammlung findet das Wirecard-Management ein geteiltes Echo. Während die einen über "Chaostage" und Intransparenz schimpfen, jubeln andere über "Glücksmomente" angesichts der Aktienkursentwicklung, die trotz wiederholter Einbrüche aufwärts geht. Es wird die letzte Hauptversammlung des Konzerns sein.

Juli: Sonderprüfung der BaFin bei der Wirecard Bank. Das Institut wird am 15. Juli unter Geldwäscheintensivaufsicht gestellt.

21. Oktober: Wirecard beauftragt die Wirtschaftsprüfer von KPMG mit einer Sonderprüfung, um die Vorwürfe der Bilanzfälschung endgültig zu entkräften.

2020 - Staatsanwaltschaft ermittelt, Unternehmen insolvent

11. Januar: An der Spitze des Aufsichtsrats löst der frühere Deutsche-Börse-Finanzvorstand Thomas Eichelmann (54) den pensionierten Banker Wulf Matthias (75) ab.

25. Februar: Behörden von Bayern und Bund sprechen nach Angaben beider Seiten erstmals über die Geldwäscheaufsicht bei der Wirecard AG. Laut Bundesfinanzministerium erklärt sich die Bezirksregierung von Niederbayern gegenüber der BaFin für zuständig. Später bestreitet Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, dass die Landesbehörde zuständig sei.

28. April: Die Wirtschaftsprüfer von KPMG stellen dem Unternehmen ein schlechtes Zeugnis aus. Für bestimmte Umsatzerlöse gebe es keine Nachweise, angebliche Einzahlungen auf Treuhandkonten in Höhe von rund einer Milliarde Euro wurden nicht hinreichend nachgewiesen, heißt es in einem Sonderbericht, den Wirecard selbst in Auftrag gegeben hatte. Konzernchef Braun hingegen sieht den in Medienberichten erhobenen Vorwurf der Bilanzfälschung als widerlegt an.

8. Mai: Der Wirecard-Aufsichtsrat beschneidet die Kompetenzen von Vorstandschef Braun. Dieser entschuldigt sich "für die Turbulenzen der vergangenen Wochen und Monate".

11. Mai: Das Strafverfahren gegen den Börsenspekulanten Fraser Perring wird gegen eine Geldauflage eingestellt, wie das Amtsgericht München mitteilt.

5. Juni: Razzia in der Wirecard-Zentrale in Aschheim. Die BaFin hatte den gesamten Wirecard-Vorstand wegen des Verdachts auf Marktmanipulation angezeigt. 

18. Juni: Die Wirtschaftsprüfer von EY verweigern Wirecard das Testat für die Bilanz für 2019, weil Belege über 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten auf den Philippinen fehlen. Die BaFin erstattet nun auch wegen Bilanzfälschung Anzeige. Wirecard suspendiert den für das operative Geschäft zuständigen Vorstand Jan Marsalek. Braun erklärt, das Unternehmen sei vermutlich Opfer "in einem Betrugsfall erheblichen Ausmaßes".

19. Juni: Wirecard-Chef Braun tritt zurück. Der neue Compliance-Vorstand James Freis übernimmt den Chefposten.

22. Juni: Wirecard erklärt, dass die fraglichen Bankguthaben von 1,9 Milliarden Euro "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen". Die Staatsanwaltschaft München ermittelt wegen Bilanzfälschung. Braun stellt sich den Strafverfolgern. Marsalek wird gefeuert und taucht unter.

25. Juni: Der Dax-Konzern stellt einen Insolvenzantrag.

9. Juli: Die Staatsanwaltschaft München bestätigt, dass sie seit dem vergangenen Jahr wegen Geldwäscheverdachts gegen Wirecard-Verantwortliche ermittelt. Diesem Verdacht waren die Strafverfolger im vergangenen Jahrzehnt wiederholt nachgegangen, ohne jedoch fündig zu werden.

22. Juli: Die Staatsanwaltschaft München erklärt, dass Wirecard mindestens seit Ende 2015 Bilanzen gefälscht und Umsätze aufgebläht hat. Sie wirft der ehemaligen Wirecard-Führungsriege nun auch gewerbsmäßigen Bandenbetrug vor. Geschäfte mit Drittpartnern in Asien seien erfunden worden, um das Unternehmen erfolgreicher aussehen zu lassen. Banken und andere Investoren hätten auf Basis der gefälschten Bilanzen 3,2 Milliarden Euro bereitgestellt, die voraussichtlich verloren seien. Braun, der zunächst gegen Kaution freigekommen war, muss nun doch in Untersuchungshaft. Auch gegen Ex-Finanzvorstand Burkhard Ley und seinen ehemaligen Chef-Buchhalter wurden Haftbefehle ausgestellt. Marsalek ist weiter auf der Flucht.

24. Juli: Scholz schlägt Konsequenzen aus dem Wirecard-Skandal vor. Das Papier, das er als "Aktionsplan der Bundesregierung" überschreibt, ist bei seiner Veröffentlichung aber nur mit dem SPD-geführten Justizministerium abgestimmt.

25. August: Das Amtsgericht München eröffnet das Insolvenzverfahren über die Wirecard AG. Der einstige Börsenstar wird zerschlagen, mehr als die Hälfte der rund 1.300 Mitarbeiter in Deutschland erhalten die Kündigung. Die Gläubiger müssen sich auf hohe Verluste einstellen: Schulden von 3,2 Milliarden Euro stehen Vermögenswerten von rund 400 Millionen gegenüber.

8. September: Untersuchungsausschuss um ehemaligen Dax-Konzern startet

19. November: Der inhaftierte Ex-Wirecard-Chef Markus Braun wird im U-Ausschuss als Zeuge gehört. Der Österreicher verliest nur eine knappe Erklärung.

2021 - Bundestag nimmt Schlussbericht einstimmig an

29. Januar: Bundesfinanzminister Scholz entlässt BaFin-Präsident Felix Hufeld und Vizepräsidentin Elisabeth Roegele.

2. Februar: Scholz treibt die Reform der BaFin voran und legt Sieben-Punkte-Paket vor, um der BaFin mehr Befugnisse zu geben.

24. Februar: Der Präsident der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), Edgar Ernst, kündigt seinen Rücktritt zum 31. Dezember an. Der DPR werden Interessenkonflikte und zu laxe Kontrollen vorgeworfen.

25. Februar: Die Wirtschaftsprüfungs-Gesellschaft EY setzt ihren Deutschlandchef Hubert Barth ab und lässt die internen Abläufe von unabhängigen Experten unter die Lupe nehmen.

25. Juni: Der Bundestag nimmt den Schlussbericht des Wirecard-Untersuchungsausschusses einstimmig zur Kenntnis.

2022 - Anklage gegen Ex-Wirecard-Chef und Prozessbeginn

14. März: Die Staatsanwaltschaft München erhebt Anklage gegen Braun und zwei weitere Wirecard-Manager. Die Ermittler werfen Braun, seinem Bilanzchef Stephan von Erffa und dem Statthalter von Wirecard in Dubai, Oliver Bellenhaus Bilanzfälschung, Marktmanipulation, Untreue und gewerbsmäßigen Bandenbetrug vor. Ermittlungen gegen weitere Beschuldigte dauern an.

9. Juni: Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffe hat mit dem Verkauf von Unternehmensteilen gut eine Milliarde Euro erlöst.

9. November: Das Landgericht München legt den Prozessauftakt für den 8. Dezember fest.

8. Dezember: Wirecard-Prozess beginnt vor dem Landgericht München. Geplant sind etwa 100 Verhandlungstermine bis Ende 2023.

Quelle: Reuters

Quelle: Ralf Isermann, AFP

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