: "Dies ist Frankreichs George-Floyd-Moment"

von Lisa Louis, Paris
30.06.2023 | 21:29 Uhr
Seit dem Tod eines 17-Jährigen durch einen Polizisten kommt Frankreich nicht zur Ruhe. Die Wut der Menschen sitzt tief. Experten erklären, warum der Fall das Land so aufwühlt.
In Frankreich kommt es seit Tagen zu Unruhen nach dem Tod eines Jugendlichen bei einer Polizeikontrolle.Quelle: AFP
Zum dritten Mal ist Frankreich diese Woche mit Bildern der Verwüstung aufgewacht: ausgebrannte Autos und Straßenbahnen, zerschmetterte Vitrinen und zerstörte Rathäuser. Sie sind ein Ausdruck der Wut der Jugendlichen in Vorstädten im ganzen Land, die seit dem Tod eines 17-Jährigen bei einer Polizeikontrolle am Dienstagmorgen an die Oberfläche bricht.
Zwar sind dies nicht die ersten Vorstadt-Unruhen, die Frankreich erlebt. Dennoch ist die Situation dieses Mal grundlegend anders. Denn elf Sekunden Video, auf sozialen Netzwerken veröffentlicht, haben Frankreich in Aufruhr versetzt.

17-Jähriger getötet: Anwalt spricht von "Exekution"

Auf dem Video ist zu sehen, wie ein Polizist den 17-jährige Nahel M. erschiesst, obwohl der von ihm wegfährt. "All die Frustration der Menschen in den Vorstädten ist explodiert, nachdem die Leute dieses Video von der Exekution gesehen haben", sagt Abdelmadjid Benamara, Anwalt der Familie von Nahel, zu ZDFheute.
Landesweite Krawalle - drei Nächte in Folge. Warum Frankreich nicht zur Ruhe kommt:

Nach dem Tod eines Jugendlichen hat Frankreich drei Nächte in Folge schwere Unruhen erlebt. Die Regierung reagiert mit Beschränkungen des öffentlichen Lebens.

30.06.2023 | 01:41 min
Es sei zwar positiv, dass der Täter nun in Untersuchungshaft ist und ein Verfahren wegen Mordes gegen ihn eingeleitet worden ist. "Aber auf dem Video sieht man, dass sein Kollege ihn noch angestachelt hat - das ist Beihilfe zum Mord. Gegen ihn sollte man auch ermitteln," sagt der Anwalt. Für Benamara ist klar, dass die Unruhen sich noch weiter ausbreiten werden.

Vorfall weckt Erinnerungen an den Fall George Floyd

Fabien Truong, Professor für Soziologie an der Universität Paris 8, versteht die Wut der Aufständischen. "Die Jugendlichen werden nicht nur selbst zum Beispiel ständig von der Polizei kontrolliert, sondern hören so etwas auch von großen Brüdern - das ist wie ein historisches Trauma der Diskriminierung", sagt er gegenüber ZDFheute.
Für Truong verändert das Video die Narrative grundlegend. "Vorher hatte im Zweifelsfall immer die Polizei Recht", sagt er. "Aber die Bilder entwerten das Argument der Selbstverteidigung." Das sieht auch Michel Kokoreff so, ebenfalls Professor für Soziologie an der Universität Paris 8.
Dies ist Frankreichs George-Floyd-Moment.
Michel Kokoreff, Professor für Soziologie an der Universität Paris
Warum die Regierung in Frankreich noch keinen Notstand ausrufen will, erklärt ZDF-Korrespondent Thomas Walde in Paris:

Die Krawalle und Unruhen in Frankreich halten seit drei Nächten an. Eine Einschätzung von ZDF-Korrespondent Thomas Walde.

30.06.2023 | 01:03 min

Soziologe: "Wie viele Nahels hat man nicht gefilmt?"

Der 46-jährige Afroamerikaner George Floyd erstickte 2020 in Minneapolis im Nordosten der USA, weil ein Polizist ihm über neun Minuten lang mit seinem Knie die Atemwege abdrückte. Ein Passant filmte damals die Szene, während der Floyd mehrere Male "Ich kann nicht atmen" rief. Es kam zu landesweiten Protesten.
"Man fragt sich: Wie viele Nahels hat man nicht gefilmt?" sagt Kokoreff im Gespräch mit ZDFheute. "Der Vorfall zeigt, dass es zwei Arten von Bürgern gibt. Ein Nahel, Mohamed oder Babacar aus der Vorstadt, ohne Universitätsabschluss, ist nicht so viel wert wie ein Bernard oder eine Juliette aus einem wohlhabenden Viertel", meint Kokoreff.
Black Lives Matter: Der Fall George Floyd und der Kampf gegen Rassismus:

Gesetz von 2017 "gibt Polizisten Spielraum"

Nahel ist dieses Jahr das dritte Todesopfer von Polizeiverkehrskontrollen. 2022 waren es 13 Menschen. Laut der staatlichen Polizeikontrollbehörde IGPN ist die Anzahl der Schüsse auf fahrende Fahrzeuge 2017 schlagartig von 137 im Vorjahr auf 202 angestiegen, und blieb danach höher als vor 2017.
In jenem Jahr änderte Frankreich das Gesetz. Vorher durften Polizisten nur bei Selbstverteidigung auf fahrende Autos schießen, die sich einer Kontrolle entziehen wollten. Seitdem dürfen sie das auch, wenn durch die Flucht andere Menschen gefährdet werden könnten. "Das gibt den Polizisten erheblichen Spielraum", unterstreicht Kokoreff.
Offensichtlich hat sich "sehr viel Wut aufgestaut", erklärt ZDF-Korrespondent Thomas Walde:

Schon die dritte Nacht in Folge halten die Proteste in Frankreich an. Eine Einschätzung der aktuellen Lage von ZDF-Korrespondent Thomas Walde.

30.06.2023 | 01:24 min

Polizeigewerkschaft: Jugendliche viel aggressiver als früher

Doch für Reda Belhaj von der Polizeigewerkschaft Unité SGP ist das nur eine Seite der Medaille. "Immer Menschen wehren sich bei Polizeikontrollen. Vergangenes Jahr waren es 25.822 - doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren", sagt er zu ZDFheute. Dieses Misstrauen gegenüber der Staatsgewalt würde man auch bei den aktuellen Unruhen merken.
Die Jugendlichen sind viel aggressiver als früher. Sie greifen nicht mehr nur Polizisten an, sondern auch Feuerwehrmänner.
Reda Belhaj, Polizeigewerkschaft Unité SGP
"Sie zerstören Rathäuser, Busse und Straßenbahnen und schießen massenhaft mit Feuerwerkskörpern auf uns", erklärt er.
Nach einer neuen Nacht der Gewalt in Frankreich rief Präsident Macron zum Krisentreffen:

Nach dem tödlichen Polizei-Schuss auf einen 17-Jährigen bei Paris kam es zu heftigen Ausschreitungen. Rund 40.000 Polizisten waren im Einsatz. Es kam zu hunderten Festnahmen.

30.06.2023 | 01:51 min

Macron im Spagat: Tötung "unverzeihlich", Krawalle "unentschuldbar"

Angesichts solch tiefer Gräben versucht die Regierung einen schwierigen Spagat. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nannte die Tötung Nahels "unerklärlich" und "unverzeihlich". Gleichzeitig bezeichnete er auch die Unruhen in den Vorstädten als "unentschuldbar".
Mehrere Städte haben nächtliche Ausgangssperren verhängt. Den Ausnahmezustand, den einige Politiker gefordert hatten, hat Macron zunächst nicht ausgerufen. Doch sicherlich werden die Zehntausenden Bereitschaftspolizisten noch nächtelang in den Vorstädten zum Einsatz kommen.
Quelle: ZDF

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