: Das systemische Problem der Kirche

von Dorthe Ferber
14.02.2023 | 18:22 Uhr
Eine unabhängige Studie zum Bistum Essen kommt zu dem Schluss: Missbrauch ist nicht nur ein persönliches Problem der Täter, sondern ein systemisches der Kirche.
Franz-Josef Overbeck (l-r), Bischof des Bistums Essen, Klaus Pfeffer, Generalvikar, und Christiane Gerard, Leiterin Personal, nehmen an der Pressekonferenz zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen teil.Quelle: dpa
Im Bistum Essen sind 423 Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester und Ordensleute bekannt -  es gibt 190 Beschuldigte. Das ist das Ergebnis einer unabhängigen Studie, bei der das sozialwissenschaftliche Institut IPP die Zeit von der Gründung des Ruhrbistums vor 65 Jahren bis heute erfasst hat.  
Einer der 423 Betroffenen ist Stephan Bertram. Der 59-Jährige spricht bei der Vorstellung der Studie über sein Leben nach dem Missbrauch durch einen Priester: Traumaklinik, Suizidversuch, jahrelange Krankschreibung, Spießrutenlauf durch Institutionen. "Mein Leben ist verkorkst", sagt Bertram.

Missbrauchs-Pfarrer durfte weiter praktizieren

Als 12-Jähriger wurde er von Pfarrer H. in Essen vergewaltigt. Und Pfarrer H. konnte nicht nur in Essen Kindern sexuelle Gewalt antun, sondern auch nach seiner Versetzung nach Bayern.
Da war H. in der Erzdiözese von Kardinal Ratzinger, dem späteren Papst Benedikt XVI., weiter als Pfarrer tätig – obwohl die Kirche von H.s Taten wusste. Täterkarrieren hätten sich teils über mehrere Jahrzehnte gezogen, sagt Helga Dill, Leiterin des IPP-Forschungsteams.

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Männer mit sozialen Defiziten zu Priestern geweiht

Die Studie untersucht die systemischen Bedingungen, die den Missbrauch begünstigten. Und listet auf: Das Bistum Essen habe lange "institutions- und täterorientiert" gehandelt, auch in den Gemeinden habe es wenig Unterstützung für die Betroffenen gegeben. Stattdessen Schweigen und Solidarität mit dem eigenen, "guten" Pfarrer.
Auch hätten beschuldigte Pfarrer noch nach ihrer Versetzung weiter Einfluss auf die Gemeinden ausgeübt. In Priesterseminaren habe lange Sprachlosigkeit bei Sexualität und sexualisierter Gewalt geherrscht. Priesterseminare seien "eigenwillige Sozialisationsmilieus" für junge Männer, in denen "menschliche Reifung nur unter erschwerten Bedingungen vollzogen werden könne". So würden Männer zu Priestern geweiht, die soziale und emotionale Defizite hätten.
Missbrauch ist nicht nur ein persönliches Problem einiger Täter, es ist ein systemisches Problem der Kirche.
Franz-Josef Overbeck, Bischof in Essen
Die Taten seien vertuscht, klein geredet und durch Versetzungen und Lügen verheimlicht worden. Das Bistum Essen habe den Betroffenen keinen Glauben geschenkt und sich nicht um sie gesorgt.

Die Kirche und der Missbrauch

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Betroffener: Kirche leistet noch zu wenig

Nun soll sich das ändern, der Bischof verspricht einen besseren Umgang und stellt den Betroffenen unbürokratische Hilfe in Aussicht, zum Beispiel Therapiekosten. 163 Betroffene haben bereits Anträge auf Anerkennungszahlungen für ihr Leid gestellt, insgesamt seien 2,6 Millionen Euro ausgezahlt worden. Meist ein paar tausend Euro im Einzelfall und zu wenig für Menschen, die nach dem Missbrauch chronisch krank und arbeitsunfähig wurden.
Stephan Bertram gehört dazu: "Ich möchte als Opfer nicht hören, dass unser Bistum arm ist oder dass Immobilien verkauft werden müssen, um die nötige Anerkennung zu leisten", sagt er: "Die katholische Kirche soll mit dem Missbrauch aufräumen und uns als Betroffene anständig entschädigen und behandeln."

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Juristische Verantwortung in Essen noch nicht benannt

Johannes Norpoth, Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz, fordert zudem, persönliche Verantwortlichkeiten in jedem einzelnen Fall zu benennen und zu beurteilen.
Da stünden dem Bistum noch große Aufgaben bevor. Bei der sozialwissenschaftlichen Studie des Bistums Essen ging es nicht um die Benennung der juristischen Verantwortung von Klerikern – anders als in anderen Bistümern. 
Dorthe Ferber ist Leiterin des ZDF-Studios Nordrhein-Westfalen.

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