: Türkei: Die Katastrophe nach der Katastrophe

von Anna Feist, Istanbul
05.08.2023 | 12:02 Uhr
Im türkischen Erdbebengebiet laufen die Aufräumarbeiten auf Hochtouren. Doch der giftige Bauschutt könnte zu einer Katastrophe für Mensch und Umwelt werden.

Seit dem Erdbeben lagern in der Türkei überall Müllberge, die toxischen Asbest verteilen – mit gefährlichen medizinischen Folgen für die Bevölkerung.

03.08.2023 | 06:43 min
Die noch grünen Mandarinen ergraut, die Olivenbäumen tragen kaum Früchte, die Pomelos nur halb so groß wie letztes Jahr: Wo man sich auch umblickt in dem großen Obstgarten von Familie Celbakoglu in der türkischen Region Hatay, alles verschwindet unter einer grauen Staubschicht.
"Wir haben Angst, das Obst zu essen", erzählt uns Mehci Celbakoglu. Denn egal wie viel man wasche, der Staub, er stecke in der Frucht.
Angefangen habe es wenige Wochen nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien im Februar. Da tauchten plötzlich Lkws voller Steinschutt auf, der direkt neben ihrem Grundstück abgelagert wurde: Mauerwerk, zertrümmerte elektronische Geräte, Autoteile.

Staub bringt Anwohner zur Verzweiflung

Große Maschinen versuchen das Metall aus den Trümmern zu holen, denn das bringt Geld. Eigentlich müssten die Arbeiter die Schutthalde konstant wässern, damit der Staub sich nicht überall verteilt. Denn der ist giftig: voller Asbest, Quecksilber und Blei.
Doch gewässert wird hier nicht, der Staub ist überall. Sebahattin Celbakoglu bringt das zur Verzweiflung: "Das Erdbeben hat uns nicht umgebracht, sollen wir nun durch den Staub sterben? Wollen Sie uns mit ihrem ganzen Steinschutt umbringen?"
Ich appelliere an alle: Helft uns!
Sebahattin Celbakoglu
Husten, Ausschlag, Juckreiz, das ganze Dorf kämpfe mit solchen Symptome, erzählen sie. Als das Ehepaar mit anderen Betroffenen protestiert, sagen sie, seien sie von Soldaten eingeschüchtert wurden, einige gar verprügelt.
Kritik am schlechten Management der Regierung in Ankara wolle hier niemand hören. Deshalb gehe es immer weiter: Täglich von morgens bis spät in die Nacht kommen Lkws voll mit dem giftigen Bauschutt angerollt.

Erdogans Wahlversprechen: Antakya wieder aufbauen

Die Region Hatay, dort wo das Ehepaar Celbakoglu lebt, ist die am schwersten zerstörte Gegend im Erdbebengebiet. Die Stadt Antakya etwa wurde zu 92 Prozent zerstört. Die türkische Regierung hat den Wiederaufbau der Stadt beschlossen. Es war das Wahlversprechen des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Verflucht und verehrt - Erdogan und das Erdbeben:

Im Süden der Türkei steht Antakya - nicht mehr. Ein Beben im Februar hat fast die ganze Stadt zerstört. Viele hier fühlen sich von Erdogan im Stich gelassen. Aber nicht alle.

14.05.2023 | 02:35 min

Ex-Staatssekretär warnt vor Verseuchung

Doch erst müssen alle schwerbeschädigten Häuser abgerissen und abtransportiert werden. So lagert der giftige Bauschutt nun in der gesamten Region: in Wohngebieten, auf landwirtschaftlich genutzten Flächen, selbst am Strand, dort wo einst der Tourismus blühte.
Mustafa Öztürk war Staatssekretär im türkischen Umweltministerium. Schon Wochen nach dem Beben schlägt er Alarm: "Die Schutthalden sollten nicht da sein, wo sie derzeit sind." Denn durch die willkürlich ausgewählten Plätze seien nun Flüsse, Küstenfeuchtgebiete und Grundwasser verseucht, Schwermetallvergiftungen drohen, warnt Öztürk.
Wut nach dem Beben - die aulandsjournal-Doku:

Arzt rechnet mit vielen Früh-und Fehlgeburten in Erdbebengebiet

Der Allgemeinmediziner Sami Reyhan ist wütend, dass die Region keine Sperrzone ist - ohne Menschen. Denn wer dem Staub ausgesetzt ist, werde es in Zukunft mit Krebs, Herz-Kreislauf- und Lungen-Erkrankungen zu tun bekommen: "Besonders erschreckend: Wir werden viele Früh- und Fehlgeburten sehen, Neuralrohrdefekte, also Fehlbildungen."
Schon jetzt komme der Großteil seiner Patienten mit Krankheitsbildern, die auf den Staub zurückzuführen sind, berichtet der Arzt: "Es mag nicht alle betreffen, aber auf eine Katastrophe könnte nun die nächste Katastrophe folgen."
So mancher wird zwar das Erdbeben überlebt haben, der Krebs aber wird ihn jahrelang quälen.
Sami Reyhan, Allgemeinmediziner
Nach dem Beben - der schwere Weg für Opfer und Helfer:

Der griechische Feuerwehrmann Dimitris Roupas war unter den ersten Rettern bei dem verheerenden Beben in der Türkei. Die Bilder dieser Katastrophe kriegt er auch nach mehr als drei Monaten nicht mehr aus dem Kopf. Fatma, das erste Mädchen, das er und sein Team gerettet haben, liegt schwer verletzt in einem Krankenhaus in Ankara. Die 7-Jährige ist durch das Beben Vollwaise geworden.

13.06.2023 | 32:00 min

Bürgermeister würde "Hatay komplett evakuieren"

Die Regierung hätte das verhindern müssen, findet Allgemeinmediziner Reyhan. Ein Interview dazu lehnt die zuständige Behörde ab. Wie konnte es so weit kommen - und warum wird die Bevölkerung nicht vor der drohenden Katastrophe gewarnt wird? Diese strategischen Entscheidungen treffe der Staat, sagt Lütfü Savaş (CHP), Bürgermeister von Hatay. Aber er fügt hinzu:
Hätte ich die Entscheidungsvollmacht, würde ich die Gesundheit zur Priorität machen; Hatay komplett evakuieren und so schnell wie möglich wieder aufbauen.
Lütfü Savaş (CHP), Bürgermeister von Hatay
So bahnt sich in Hatay nach der Katastrophe eine neue Katastrophe an, die die Gesundheit derer kosten könnte, die das Beben überlebt haben.
Wie läuft der Wiederaufbau in der Türkei?

Vor sechs Monaten kam es in der Türkei zu einem gewaltigen Erdbeben. Der Wiederaufbau geht nur langsam voran, denn in den zerstörten Gebieten herrscht hohe Gesundheitsgefahr.

29.07.2023 | 01:46 min

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