Analyse

: Warum Russland die Energieversorgung zerstört

von Christian Mölling, András Rácz
11.04.2024 | 13:56 Uhr
Konzentrierte Großangriffe auf Stromerzeugungsanlagen, ein großes Wärmekraftwerk wird zerstört. Die ukrainische Luftverteidigung ist nicht in der Lage, das Land zu verteidigen.
Russische Streitkräfte starteten im ganzen Land Raketenangriffe auf ukrainische Energieanlagen.Quelle: epa
Russland hat zuletzt seine konzentrierten Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur fortgesetzt und intensiviert. Nach den Großangriffen vom 21. und 22. März führte Russland in der ersten Aprilwoche, vom 5. bis 9. April, täglich Raketen- und Drohnenangriffe auf energiebezogene Ziele durch, darunter Kraftwerke und Umspannwerke in den Regionen Odessa, Charkiw, Dnipropetrowsk, Lemberg und Poltawa.
Nach offiziellen ukrainischen Angaben von Anfang der Woche sind bereits 80 Prozent der gesamten ukrainischen Wärmekraftwerkskapazität zerstört oder funktionsunfähig.

Wegen knapper Munition steht die ukrainische Armee unter Druck. Zum Ausgleich setzen die Streitkräfte auf sogenannte FPV-Drohnen, die feindliche russische Stellungen zerstören.

10.04.2024 | 16:49 min

Ukraine: Großes Ausmaß der Zerstörung

Darüber hinaus wurde in der Nacht vom 10. auf den 11. April die Energieinfrastruktur der Ukraine von einer weiteren großen russischen Angriffswelle getroffen. Das Trypillja-Wärmekraftwerk, eine riesige Anlage, die die Regionen Kiew, Tscherkassy und Schytomyr versorgt, wurde mehrfach getroffen, was zu einem Großbrand in der Turbinenhalle führte. Am frühen Nachmittag des 11. April gaben Vertreter des Energieunternehmens Centrenergo zu, dass das Trypillja-Wärmekraftwerk vollständig zerstört wurde. Nach den ersten verfügbaren Bildern würde die Reparatur, wenn überhaupt möglich, sicherlich Jahre dauern.
Trypillja ist bereits das zweite große Wärmekraftwerk, das zerstört wurde: Ende März zerstörten russische Schläge das Wärmekraftwerk Smijiw in der Region Charkiw vollständig. Alle acht Blöcke des Kraftwerks wurden getroffen.

In der ukrainischen Armee herrscht Personalmangel. Ob die Absenkung des Wehrdienstalters der Rekrutierung viel hilft, ist fraglich – die Militärs greifen zu anderen Strategien.

05.04.2024 | 02:37 min

Russland ändert Vorgehen

Diese russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur unterscheiden sich von den Angriffen im Winter 2022 - 2023. Damals zielte Russland hauptsächlich auf Umspannwerke und Transformatoren, also auf das Verteilungsnetz, traf aber nicht die Stromerzeugungskapazität. Jetzt ist das Ziel jedoch eindeutig die konventionelle (nicht-nukleare) Stromerzeugungskapazität der Ukraine.
Die Lage in den Regionen Charkiw und Saporischschja ist bereits äußerst kompliziert und dürfte sich auch in und um Kiew bald verschärfen.
Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:

Was will Russland erreichen?

Das wahrscheinliche Ziel der russischen Angriffe ist zweigeteilt. Erstens soll die Ukraine davon abgehalten werden, weitere russische Ölraffinerien anzugreifen. Und zweitens sollen Stromengpässe verursacht werden, die das Funktionieren der ukrainischen Rüstungsindustrie erschweren würden.
Durch die Zerstörung der Stromerzeugungskapazitäten und die Destabilisierung des Stromnetzes wird die ukrainische Regierung bald vor der Wahl stehen, entweder die Rüstungsindustrie oder die Bevölkerung zu versorgen. Daher ist mit immer häufigeren und längeren Stromausfällen zu rechnen, insbesondere in den östlichen und zentralen Regionen des Landes.

Ab Mai erwartet die Ukraine eine neue russische Offensive. Präsident Selenskyj ist zu weiterer Mobilisierung gezwungen. Die Ukraine fordert fast täglich zusätzliche Flugabwehrsysteme.

05.04.2024 | 02:04 min

Immer größere Lücken in der Flugabwehr

Die dezimierte ukrainische Luftverteidigung, die zwar immer noch tapfer kämpft, ist offensichtlich nicht in der Lage, das Land gegen solche konzentrierten Angriffe zu verteidigen. Während sie mit mobilen Flugabwehrteams (bestehend aus schweren Maschinengewehren und Maschinenkanonen, die auf Pickups montiert sind), MANPADS und Kurzstrecken-Luftabwehrraketen immer noch in der Lage ist, eine beträchtliche Anzahl von Shahed-Drohnen abzuschießen, erreichen die fortschrittlicheren russischen Marschflugkörper und insbesondere die ballistischen Raketen ihre Ziele offenbar fast ungehindert.

Dr. Christian Mölling ...

Quelle: DGAP
... ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und leitet dort das Programm Sicherheit, Verteidigung und Rüstung. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.

Dr. András Rácz ...

Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.

Neue Einsatztaktik Russlands

Darüber hinaus hat Russland offenbar seine Fähigkeit verbessert, den Einsatz billiger, relativ leicht zu tötender Shahed-Drohnen zu koordinieren und mit moderneren Raketen zu kombinieren. Während die Shahed-Drohnen die verbliebene ukrainische Luftverteidigung überlasten, können die Marschflugkörper leichter durchdringen. Daher ist Russland regelmäßig in der Lage, Ziele auch in den westlichen Regionen des Landes zu treffen.
Wenn die konzentrierten russischen Angriffe weitergehen und der Westen nicht in der Lage ist, die Ukraine mit einer effizienten Luftabwehr zu versorgen, wird die Lage des ukrainischen Energiesektors bald kritisch werden, was sich auch auf die zentralen Kriegsanstrengungen auswirken wird.

In Brüssel beraten die Nato-Außenminister erstmals über eine "Nato-Mission Ukraine". ZDFheute live blickt mit Ex-Nato-General Egon Ramms auf die Pläne.

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