Analyse

: Taiwan-Wahl: China nicht das einzige Thema

von Miriam Steimer, Taipeh
12.01.2024 | 17:20 Uhr
Bei der Wahl in Taiwan geben 20 Millionen Menschen ihre Stimme ab. Doch neben dem Konflikt mit China geht es für die Menschen vor Ort um viel mehr.

Am Samstag wählt Taiwan ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten. Die Welt schaut mit Spannung zu.

12.01.2024 | 02:37 min
Vier Stunden pro Tag. Jeden Tag. So lange sitzt Joseph Wen in seinem Studentenzimmer in Taipeh vor dem Laptop. Der 24-Jährige guckt sich das an, was Chinas Staatsführung "Nachrichten" nennt - und was in Wirklichkeit eine streng kontrollierte Propaganda-Show ist. Joseph ist so etwas wie ein Detektiv. Ein digitaler Spurensucher. Er sammelt jede Info, die er über Chinas Militär finden kann.
Er schaut sich die Bilder aus den Propaganda-Sendungen ganz genau an: "Hier gibt es zum Beispiel eine Straße und neben dem Militärfahrzeug steht ein Strommast und da hinten eine Art Ein- und Ausfahrt. Ich gucke dann auf der Karte, wo das sein könnte", sagt er. Jedes Mini-Detail zählt und mit den Hinweisen findet er - manchmal erst nach Stunden oder Tagen - heraus, wo der Ort genau ist. Das vermerkt er dann auf seiner öffentlich zugänglichen Karte.

Am Samstag finden in Taiwan die Präsidentschaftswahlen statt. Wichtigstes Thema ist der Umgang mit dem übermächtigen Nachbarn China, der den Inselstaat als abtrünnige Provinz sieht.

12.01.2024 | 01:37 min

Umfragen-Favorit: Vize-Präsident William Lai (DDP)

Es ist seltsam für ihn, jeden Tag Chinas Propaganda im Fernsehen zu sehen: "Ich lebe in einem anderen Land, mit anderer politischer Philosophie, anderer Ideologie, also war es anfangs schon etwas komisch", sagt Joseph. Chinas Staatsführung sieht das anders. Für sie ist Taiwan kein eigenständiges Land, sondern eine "abtrünnige Provinz" wie es in der Propaganda heißt. Gerade erst sprach Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping in seiner Neujahrsrede mal wieder von der "historisch unvermeidbaren Wiedervereinigung".

Lai Ching-te

Quelle: epa
Der 64-jährige Lai gilt als Favorit bei dem Urnengang. Die Taiwaner kennen den Politiker der DPP seit vier Jahren als Vizepräsidenten. Der Sohn eines Bergarbeiters studierte in Harvard und arbeitete als Arzt, bis er vor fast 30 Jahren in die Politik wechselte. Er war Abgeordneter, Bürgermeister der Stadt Tainan im Südwesten des Inselstaates und Regierungschef.

Er selbst nennt sich einen "pragmatischen Verfechter der Unabhängigkeit Taiwans" - und geht noch deutlicher auf Distanz zur kommunistischen Volksrepublik China als die scheidende Präsidentin. Peking, das Taiwan als abtrünnige Provinz betrachtet, beschimpft ihn und seine Vize-Kandidatin Hsiao Bi-khim, die ehemaligen taiwanische Vertreterin in Washington, als "gefährliches Unabhängigkeits-Duo". Lai bezeichnet die Wahl als eine Entscheidung zwischen "Demokratie und Autokratie". Er zeigt sich jedoch bereit, "die Tür für den Austausch und die Zusammenarbeit mit China zu öffnen, wenn die Voraussetzungen für Gleichheit und Würde gegeben sind".

Hou Yu-ih

Quelle: dpa
Der ehemalige Polizeichef und Bürgermeister von Neu-Taipeh, Hou Yu-ih, ist der Kandidat der größten Oppositionspartei Kuomintang (KMT), die für eine Annäherung an China eintritt. Der 66-Jährige ist seit 2010 in der Politik. Damals wurde er stellvertretender Bürgermeister von Neu-Taipeh, dem mit vier Millionen Einwohnern größten Wahlkreis der Insel. 2018 stieg er dort zum ersten Bürgermeister auf. Am Samstag hätten die Taiwaner die Wahl "zwischen Krieg und Frieden", meint Hou.

Seine lange Karriere bei der Polizei befähige ihn, "Taiwan zu schützen", verspricht er. "Ich kann den Frieden auf beiden Seiten der Straße von Taiwan wahren, und ich werde mein Bestes tun, um einen Krieg zu verhindern." Hou kritisiert die regierende DPP für ihre Wirtschaftsbilanz und kündigte an, im Falle seiner Wahl "so schnell wie möglich" einen umfassenden Handelspakt mit Peking zu schließen.

Ko Wen-je

Quelle: dpa
Ko Wen-je gründete 2019 die Taiwanische Volkspartei (TPP) als dritte Option zu den beiden dominierenden politischen Parteien. Der ehemalige Chirurg war ein politischer Neuling, als er sich 2014 um das Amt des Bürgermeisters von Taipeh bewarb – und gewann. Es war das erste Mal, dass ein Unabhängiger für den Führungsposten der Hauptstadt gewählt wurde. Bekannt unter seinem Spitznamen "Ko P" sieht sich der 64-Jährige als "vernünftige und pragmatische" Alternative zu den beiden großen Parteien, die "viele Wähler nicht mehr ertragen können". Sein forsches und schnoddriges Auftreten spricht vor allem viele junge Menschen an. Kritiker monieren, dass er seine Positionen je nach Publikum ändere.

Seine Kommentare zu Frauen und der LGBTQ-Gemeinschaft sorgten ebenfalls für Kontroversen. In einem Interview kündigte Ko an, die Fähigkeiten Taiwans zur militärischen Selbstverteidigung ausbauen zu wollen. Damit wolle er der chinesischen Führung klar machen, dass ein Krieg "einen hohen Preis" hätte. Gleichzeitig wolle er auf Kommunikation mit Peking setzen, um zu verhindern, "dass aus Versehen geschossen wird".

Quelle: AFP

Joseph unterstützt die Regierungspartei, die Taiwans Eigenständigkeit betont und deren Präsidentschaftskandidat William Lai in den Umfragen vorne liegt. Er beobachtet Chinas Aufrüstung - sprachlich wie militärisch - ganz genau. Denn für ihn das Wichtigste: "Den Feind zu kennen und ihn zu verstehen."
Sechs Fragen und Antworten zu den Wahlen

Chinas Favorit: Hou Yu-ih (KMT)

Patty Peng mag das Wort "Feind" für das chinesische Festland nicht. Die 46-Jährige ist dort geboren, mit einem Taiwanesen verheiratet und wünscht sich die "guten alten Zeiten" zurück: "Damals liefen der wirtschaftliche und kulturelle Austausch reibungslos. Auch jetzt würde das die Wirtschaft ankurbeln und das Leben sowohl auf dem Festland als auch auf Taiwan besser machen." Sie wünscht sich, dass die Menschen auf beiden Seiten der Taiwan-Straße mehr Kontakt haben, näher zusammenrücken, aber ihre unterschiedlichen politischen Systeme behalten.

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Als Freiwillige unterstützt sie deshalb den Präsidentschaftskandidaten Hou Yu-ih der KMT. Es ist der Kandidat, der dem chinesischen Festland am freundlichsten gegenüber steht und die Kommunistische Partei Chinas dazu bringen möchte, die offiziellen Kontakte wieder aufzunehmen. Laut den letzten Umfragen vor der Wahl unterstützen fast 30 Prozent die Position der KMT-Partei.
So sieht es in den Wahlkampf-Zentralen der drei Präsidentschaftskandidaten aus

Favorit der Jungen: Ko Wen-je (TPP)

Jacky Hsu ist die alte Diskussion um die Beziehung von Taiwan zu Festland-China Leid. "Wir haben eigene Pässe, eine eigene Armee, sind ein souveränes, unabhängiges Land, es gibt keinen Grund, Taiwans Unabhängigkeit zu betonen und damit noch mehr Streit zu verursachen", sagt er. Der 31-Jährige unterstützt Ko Wen-je und seine von ihm 2019 gegründete Partei.
Jacky hofft, dass sein Kandidat sich um das Problem kümmert, das ihn und viele junge Leute in Taiwan viel mehr umtreibt als das Verhältnis zu China: die hohen Immobilienpreise. Deshalb hat Jacky Taipeh verlassen, ist nach Hsinchu gezogen, 80 Kilometer von der Hauptstadt entfernt.

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Hier ist das Leben günstiger und er kann mit seiner Familie im Haus der Schwiegereltern leben - mietfrei. Für seine beiden Kinder wünscht er sich, dass die sich mal ein eigenes Haus leisten können, wenn sie dafür hart arbeiten. Das bleibe seiner Generation verwehrt "egal, wie hart wir arbeiten", sagt er.
Was Joseph, Patty und Jacky gleichermaßen hoffen: dass, egal welcher Kandidat der nächste Präsidenten wird, es friedlich bleibt in Taiwan.
Miriam Steimer ist Korrespondentin im ZDF-Studio Ostasien.

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