: Darum sterben so viele Menschen im Mittelmeer

von Alice Pesavento
27.09.2023 | 08:19 Uhr
In diesem Jahr ist die Zahl der Menschen, die bei dem Versuch sterben, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, so hoch wie seit langem nicht mehr. Wie kann das sein?
Die Flucht übers Mittelmeer gilt als sehr gefährlich. Die Zahl der Toten und Vermissten steigt. (Archivbild)Quelle: Reuters
2.356. So viele Menschen sind seit Anfang des Jahres mindestens bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, gestorben oder werden vermisst. Das sind fast so viele Fälle, wie im kompletten vergangenen Jahr 2022. Diese Route gilt als die gefährlichste Fluchtroute der Welt. Wie kann es sein, dass an den Außengrenzen der Europäischen Union, die das Recht auf Asyl in ihrer Grundrechtecharta verankert hat, so viele Menschen sterben?
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Warum sterben so viele Menschen im Mittelmeer?

Der Hauptgrund: Die Schließung der Grenzen und das Fehlen von legalen Flucht- und Migrationswegen, sagt die Migrationsforscherin Sophie-Anne Bisiaux, die Mitglied im Netzwerk Migreurop ist. Das Netzwerk setzt sich für die Verteidigung der Grundrechte von Menschen auf der Flucht ein.
Es stimmt nicht, dass es diese legalen Wege gibt, denn sie sind fast unmöglich zu erreichen.
Sophie-Anne Bisiaux, Migrationsforscherin
So können Geflüchtete, die in Europa um Asyl bitten möchten, dies nur machen, wenn sie europäischen Boden erreicht haben. Zudem ist der Prozess, ein Visum zu bekommen, mit hohen Hürden verbunden.
Dass aktuell mehr Menschen auf der Mittelmeerroute sterben, liegt natürlich auch daran, dass mehr Menschen es über diesen Weg versuchen. 52 Prozent der Menschen, die Italien im ersten Halbjahr dieses Jahres über das Mittelmeer erreicht haben, sind von Tunesien aus gestartet, zeigen Zahlen des UNHCR. 42 Prozent haben in Libyen abgelegt.

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Vor diesem Hintergrund führten die verstärkten Grenzkontrollen durch die tunesische und die libysche Küstenwache ebenfalls zu mehr Toten:
Die tunesische Küstenwache verübt Gewalttaten an den Migranten und führt gefährliche Manöver durch.
Sophie-Anne Bisiaux, Migrationsforscherin
"Das hat vielen Menschen den Tod gebracht, denn es gibt viele Schiffbrüche, die durch das Fehlverhalten der tunesischen Küstenwache verursacht wurden", sagt Bisiaux.

Wie zählt man die Toten im Mittelmeer?

Organisationen wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) versuchen, die Zahl der Menschen, die im Mittelmeer sterben, zu erheben. Das ist aber nur sehr schwer möglich, erklärt Migrationsforscherin Alejandra Rodríguez-Sanchez: „Es gibt unsichtbare Schiffbrüche, die passieren und von denen niemand etwas erfährt, weil es keine Überlebenden gibt. Es gibt keine Beweise, dass sie passiert sind, bis vielleicht einige Zeit später eine Leiche an der Küste angespült wird und man nicht weiß, woher diese Person kommt und auf welchem Boot sie war“, sagt Rodríguez-Sanchez. Die tatsächliche Zahl der Menschen, die im Mittelmeer sterben, ist also wahrscheinlich weitaus höher als die offiziellen Daten.

Die Informationen zu den Todesfällen, die in die Statistiken der IOM einfließen, stammen aus verschiedenen Quellen, wie z.B. Medienberichten, Nichtregierungsorganisationen und aus Befragungen von Migranten. Die Liste der IOM ist online verfügbar. Darin sind auch die Quellen verlinkt, auf die IOM für die Verifizierung der jeweiligen Todesfälle zurückgreift, meist lokale und internationale Medienberichte.

Sowohl die tunesische als auch die libysche Küstenwache wurden in den vergangenen Monaten und Jahren stark von der EU und einzelnen Mitgliedsstaaten unterstützt.
Viele der Schnellboote, mit denen die libyschen Behörden flüchtenden Migranten hinterherjagen, wurden von Italien gespendet.
Maurice Stierl, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück
In der ersten Hälfte dieses Jahres wurden insgesamt über 40.000 Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer zu überqueren, von der tunesischen oder libyschen Küstenwache in die beiden nordafrikanischen Länder zurückgedrängt oder zurückgebracht.
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Welche Rolle spielt die Seenotrettung?

Seit 2015 haben die EU und ihre Mitgliedsstaaten die proaktive Suche nach Booten in Seenot immer weiter zurückgefahren und den Fokus auf die Schmugglerbekämpfung und den Grenzschutz gelegt, sagt Maurice Stierl. Auch das trage zu mehr Toten im Mittelmeer bei:
"Wenn das gesamte System auf die Abwehr von Migrant*innen und Abschreckung und eben nicht auf deren Rettung ausgerichtet ist, dann ist es nicht verwunderlich, dass wir weiterhin derart viele Todesfälle zu beklagen haben", sagt er.
Denn die europäische Grenz-Architektur ist nicht darauf ausgerichtet, Migranten in Not zu retten, sondern sie außerhalb Europas zu halten.
Maurice Stierl, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück
Mehrere zivilgesellschaftliche Seenotrettungsorganisationen warnten schon im August 2022, dass aufgrund von mangelnden staatlich organisierten Such- und Rettungsmaßnahmen ein hohes Risiko bestünde, dass die Todesfälle im Mittelmeer künftig noch weiter ansteigen könnten.

Führt mehr Seenotrettung zu mehr Fluchtversuchen?

In den vergangenen Jahren wurde von verschiedenen Seiten immer wieder behauptet, dass Seenotrettung zur mehr irregulärer Migration und somit auch zu mehr Todesfällen im Mittelmeer führen würde. Seenotrettungsaktionen wären ein „Pull-Faktor“, also ein Anreiz für Migranten und Geflüchtete, das Mittelmeer zu überqueren, da sie eine Rettung angeblich mit in ihre Entscheidung über das mit der Flucht verbundene Risiko einkalkulieren würden.

Eine Studie, die vor Kurzem von einem internationalen Forschungsteam um Alejandra Rodríguez-Sánchez veröffentlicht wurde, hat diese Behauptung nun widerlegt. Die Seenotrettung habe demnach keinen Einfluss auf die Zahl der Überquerungsversuche im zentralen Mittelmeer. „Die Menschen wissen, dass es sehr schwierig ist, gerettet zu werden und sie versuchen es trotzdem. Es geht ihnen nicht darum, gerettet zu werden, sondern darum, einer Situation zu entkommen, die unerträglich ist“, so Rodríguez-Sánchez.

Zivile Seenotrettungsorganisationen sind deshalb noch wichtiger geworden. Sie retteten in der ersten Hälfte des Jahres insgesamt 6.134 Menschen, wie das Koordinierungsnetzwerk für die zivile Seenotrettung (CMRCC) berichtet. Die Zahl der Toten wäre ohne zivile Seenotrettung also um ein Vielfaches höher.
Die Arbeit von Seenotrettern wird aber zunehmend kriminalisiert. So hat Italien Ende 2022 ein Dekret erlassen, das die Einsätze von zivilen Seenotrettern im Mittelmeer deutlich einschränkt. Laut Bisiaux, weise Italien den Seenotrettern beispielsweise mit Absicht Häfen zu, die weit im Norden des Landes liegen. Dadurch verlieren die Helfer wertvolle Zeit, in der sie weitere Menschenleben retten könnten.

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Wie kann die Zahl der Toten reduziert werden?

Um die Zahl der Toten zu reduzieren, müsse man die Ursachen für die Todesfälle und die Fluchtgründe identifizieren und bekämpfen, so Bisiaux.
Der beste Weg, diese Todesfälle auf See zu verhindern, wäre, den Menschen eine sichere Reise zu ermöglichen und ihr Grundrecht auf Freizügigkeit zu respektieren.
Sophie-Anne Bisiaux, Migrationsforscherin
Laut Maurice Stierl sei der Versuch, die Zahl der Überquerungen mit allen Mitteln zu reduzieren, ohne die größeren strukturellen Ursachen von Migration und Vertreibung anzugehen, zum Scheitern verurteilt. "Wie die Geschichte der Migration über das Mittelmeer zeigt, bedeutet das nur, dass Migrationsrouten noch unsicherer, gefährlicher und länger werden", sagt er.

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Auch die Versuche, Schmugglerkriminalität zu bekämpfen, seien nicht zielführend. "Die Notwendigkeit der Schleuserei wird durch Europas restriktive Migrationspolitik erst geschaffen. So lange Menschen keine Möglichkeiten haben, über sichere Wege zu fliehen, wird sie weiter existieren", so Stierl.
Alejandra Rodríguez-Sanchez, die an der Universität Potsdam zu Migration forscht, betont, dass der Fokus auf der Rettung von Menschenleben liegen sollte.
Man sollte versuchen, alle zu retten - selbst wenn einige von ihnen am Ende in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden würden. Andernfalls ist der Verlust von Leben einfach unerträglich.
Alejandra Rodríguez-Sanchez, Migrationsforscherin an der Universität Potsdam

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