Interview

: Ist der Wirecard-Skandal noch viel größer?

von Johannes Hano, Singapur
02.03.2024 | 13:27 Uhr
Der Wirecard-Skandal ist das größte Wirtschaftsverbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte und es ist noch lange nicht aufgeklärt. Ein Whistleblower berichtet.

Der Fall Wirecard ist das größte Wirtschaftsverbrechen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Pav Gill war der Mann, der als Whistleblower das ganze Lügengebäude zum Einsturz brachte.

29.02.2024 | 14:43 min
Der Skandal könnte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young die Existenz kosten. 13.000 Investoren und Insolvenzverwalter klagen auf Schadensersatz gegen die Wirtschaftsprüfer. Es geht um mehr als zwei Milliarden Euro.

Justiziar von Wirecard Asien: "Woher kam dieses Geld?"

In Singapur treffen wir einen Mann, der Licht ins Dunkel bringen möchte. Seine Aussagen könnten die Wirtschaftsprüfer und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) noch in erhebliche Erklärungsnot bringen.
Pav Gill war Justiziar von Wirecard Asien und der Mann, der als Whistleblower für die "Financial Times" schließlich das ganze Lügengebäude zum Einsturz brachte. Detailliert erzählt er uns seine Geschichte. Eine Geschichte, die einem den Atem verschlägt.
Bevor sie mich gefeuert haben, wollten sie mich umbringen.
Pav Gill, ehemaliger Justiziar von Wirecard Asien
Pav Gill (rechts) bei einem Treffen mit Jan Marsalek (Mitte). Gill war Justiziar von Wirecard Asien und Whistleblower - und damit maßgeblich an der Aufdeckung des Wirecard-Skandals beteiligt.Quelle: Pav Gill
Gill hatte im März 2018 herausgefunden, dass Wirecard Asien im großen Stil über Drittfirmen Gelder verschiebt. Der Anwalt sagt: "Finanziell ergaben die Dinge alle keinen Sinn. Jede einzelne Tochtergesellschaft in der asiatischen Region machte Verluste. Aber jedes Mal, wenn die vierteljährlichen Ergebnisse bekannt gegeben wurden, waren die Einnahmen immer mehrere hundert Millionen. Also, woher kam dieses Geld? Das waren alles Alarmsignale."

Warnungen an Wirecard-Zentrale in München

Er geht zunächst davon aus, dass lokale Wirecard-Topmanager das Unternehmen schädigen, er informiert die Zentrale in München und warnt vor den Buchungen in Asien.
Was ich nicht wusste, war, dass diese Leute Anweisungen von der Zentrale erhielten. Das war der Moment, in dem es unheimlich wurde.
Pav Gill, Whistleblower

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Gefährliches Treffen mit Wirecard-Finanzchef Kurniawan?

Der Finanzchef von Wirecard Asien, der Indonesier Edo Kurniawan, der direkt an Jan Marsalek, Vorstand von Wirecard in München, berichtet, lädt Gill im Sommer 2018 in Singapur zum Mittagessen ein. Kurniawan, der laut Gill vor Mitarbeitern tönte, in die indonesische Unterwelt eingeheiratet zu haben, will ihn auf Geschäftsreise in die indonesische Hauptstadt Jakarta schicken.
"Dann erhielt ich anonyme Anrufe aus Deutschland. Sie fragten: 'Hallo? Ist das Pav Gill? Wir haben gehört, dass dir gesagt wurde, nach Jakarta zu reisen'", erinnert sich der Whistleblower. Und weiter:
'Fahre nicht, denn du wirst nicht mehr zurückkommen.' Und dann legten sie auf.
Pav Gill, ehemaliger Justiziar von Wirecard Asien
Der Indonesier Edo Kurniawan war Finanzchef von Wirecard Asien und berichtete direkt an Jan Marsalek. Heute wird er von Interpol gesucht.Quelle: Pav Gill

BaFin und Ernst & Young in Erklärungsnot

Pav Gill taucht aus Angst, umgebracht zu werden, unter, aber er nimmt seine Recherchen und die belastenden Beweise mit. Und er tut etwas, anonym, was die Aufsichts- und Ermittlungsbehörden sowie die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young in Deutschland noch in Erklärungsnot bringen könnte:
"Bevor der erste Artikel der "Financial Times" erschien, hatte ich ein Dossier mit all diesen gefälschten Verträgen und anderen Informationen erstellt. Es war etwa drei Zentimeter dick und ich habe es idiotensicher gemacht. Ich habe eine Inhaltsangabe erstellt und erklärt, um welche Verträge es sich handelt. Dann habe ich es in Papierform an die BaFin und andere geschickt."
Ernst & Young hat es ebenfalls erhalten, auch die Staatsanwaltschaft in München hat es bekommen. Aber aus irgendeinem Grund wollte niemand etwas unternehmen. Das war verrückt!
Pav Gill, ehemaliger Justiziar von Wirecard Asien

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Für die Wirecard-Verfahren in Deutschland könnte diese Aussage noch von erheblicher Bedeutung sein, denn es geht dort auch um die Frage: Wer wusste wann Bescheid, dass Wirecard in ein Wirtschaftsverbrechen epischen Ausmaßes verwickelt ist?

Gill: Kreis der Wirecard-Angeklagten zu klein

Die Finanzaufsichtsbehörde BaFin und die Wirtschaftsprüfer wollen davon über all die Jahre nichts mitbekommen haben, sehen sich selbst als Opfer einer kriminellen Bande rund um die Wirecard-Vorstände Markus Braun und Jan Marsalek. Braun steht seit Dezember 2022 in München vor Gericht. Jan Marsalek soll sich mit Hilfe von Ex-Geheimdienstlern über Belarus nach Russland abgesetzt haben.
Pav Gill aber wundert sich, dass der Kreis der Angeklagten bislang doch eher klein ist: "Ich weiß sicher, dass viele andere Leute beteiligt und informiert waren. Wo sind diese Leute? Warum werden sie nicht vor Gericht gestellt?"
Zum Schluss sagt Gill, er sei bereit, mit allen Beteiligten zu sprechen. Bislang aber haben weder die Münchener Staatsanwaltschaft noch die Wirtschaftsprüfer direkt Kontakt mit ihm aufgenommen.
Johannes Hano ist Asien-Korrespondent und Leiter des ZDF-Studios Singapur.
Transparenzhinweis:
In einer ersten Version hieß es: Zum Schluss sagt Gill, er sei bereit, mit den deutschen Ermittlungsbehörden und den Wirtschaftsprüfern zu sprechen. Doch bislang habe niemand Kontakt mit ihm aufgenommen - und man fragt sich: Warum? Diese Formulierung wurde geändert.

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