: Misstrauen mit Geschichte

von Thomas Dudek
14.02.2023 | 21:13 Uhr
Schon vor dem Krieg in der Ukraine war das Verhältnis Litauens, Lettlands und Estlands zu Russland von Misstrauen geprägt. Grund dafür sind die eigenen historischen Erfahrungen.
Grenzzaun in der Region Yakovlevka an der litauisch-russischen GrenzeQuelle: Imago
Auch wenn es um die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland schon vor dem 24. Februar 2022 nicht besonders gut stand, war der russische Angriffskrieg in der Ukraine doch eine weitreichende Zäsur. Nicht wenige sprechen gar von einem neuen Eisernen Vorhang, der seitdem durch Europa geht.
Ein Eiserner Vorhang, der an der litauischen Grenze zu Russland jedoch schon seit Jahren Realität ist. Bereits 2017 wurde dort ein zwei Meter hoher Stacheldrahtzaun errichtet. Ebenfalls seit 2017, als Reaktion auf die russische Annexion der Krim 2014, sind in Litauen zur Stärkung der Nato-Ostflanke Bundeswehrsoldaten stationiert. Dies macht deutlich, wie groß das Misstrauen in Litauen, das seit 2004 auch der Europäischen Union und der Nato angehört, gegenüber Russland schon vor dem 24. Februar 2022 war.
Und damit steht das kleine Litauen in der Region nicht allein da. Auch die zwei weiteren baltischen Nachbarn Lettland und Estland schauen auf das große Russland argwöhnisch, was sich auch in der Unterstützung für die Ukraine widerspiegelt.

Baltische Länder gehören zu den größten Ukraine-Unterstützern

Gemessen am eigenen Bruttosozialprodukt, gehören die drei baltischen Staaten laut dem "Ukraine Support Tracker" des Kieler Instituts für Weltwirtschaft zusammen mit Polen zu den vier größten Unterstützern der Ukraine. Allein Estlands direkte Hilfsleistungen entsprechen 1,1 Prozent des Bruttosozialprodukts.
Karte: Kaliningrad und das BaltikumQuelle: ZDF
Das Misstrauen der drei baltischen Staaten gegenüber Russland hat historische Gründe. "Durch den Hitler-Stalin-Pakt wurden Litauen, Lettland und Estland in den Jahren 1939 und 1940 Teil der Sowjetunion", erklärt Martin Schulze Wessel, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Uni München, gegenüber ZDFheute.
Was nicht nur zu Folge hatte, dass die drei Staaten so ihre erst 1918 vom Russischen Reich erlangte Unabhängigkeit bis 1990 verloren haben.
Eine zentrale Rolle im Bewusstsein der Menschen spielt bis heute die Erfahrung der Deportation, der ab 1940 viele Balten zum Opfer fielen.
Martin Schulze Wessel, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Uni München

Auch das Vertrauen zu anderen Nationen sinkt durch den Ukraine-Krieg.

02.06.2022 | 06:23 min

Ansiedlung von Russen in Lettland, Litauen und Estland

Es blieb aber nicht nur bei den Deportationen. "Mit der Industrialisierung der baltischen Republiken begann auch die Ansiedlung von Russen und anderer Völker der Sowjetunion. Und diese Ansiedlung bezweckte nicht nur Sowjetisierung Litauens, Lettlands und Estlands, sondern hatte auch zur Folge, dass ihre Länder teilweise russifiziert wurden", so Schulze Wessel.
"Man muss bedenken, dass dies kleine Nationen sind und diese Erfahrungen als Bedrohung der eigenen nationalen Identität wahrgenommen wurden. Erfahrungen, die bis heute prägen", erläutert der Münchener Osteuropahistoriker weiter.

Litauen, das an die russische Enklave Kaliningrad grenzt, fühlt sich von Russland bedroht. Das Land hat unweit der Grenze einen Militärstützpunkt.

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Welche Auswirkungen die Sowjetzeit bis heute hat, zeigt sich vor allem im Umgang Lettlands und Estlands mit ihren russischsprachigen Minderheiten, die durch die Ansiedlung in der Sowjetzeit entstanden. Während in Estland rund 26 Prozent der Bevölkerung der russischsprachigen Minderheit angehören, sind es in Lettland um die 30 Prozent. Und wie schwer man sich mit der Integration dieser Einwohner tut, zeigt das Beispiel Lettland.
Noch 32 Jahre nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit besitzt ein Teil der russischsprachigen Minderheit weder die lettische noch die russische Staatsbürgerschaft. Dadurch sind diese Menschen auch von Wahlen und anderer politischer Teilhabe ausgeschlossen.

"Mit offenen Karten" ergründet das Baltikum, das im vergangenen Jahr unfreiwillig ins Zentrum des Weltgeschehens rückte. Als direkte Nachbarn Russlands erleben diese Länder den Angriff auf die Ukraine als Bedrohung ihrer eigenen Sicherheit.Ein Überblick über die Ursprünge, Sprachen, Geschichte und Wirtschaftsmodelle dieser Staaten verrät viel über ihre Beziehungen mit Russland.

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Misstrauen gegenüber russischen Minderheiten wächst

Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine, den der Kreml auch mit dem angeblichen Schutz der dortigen russischsprachigen Bevölkerung begründet, wuchs in den baltischen Staaten das Misstrauen gegenüber der Minderheit. Die Sorge ist groß, dass Russland unter dem gleichen Vorwand auch dort einmarschieren könnte. Dabei schauen die Balten auf das Jahr 2007 zurück.
Damals kam es in Tallinn wegen der Verlegung des "Bronzenen Soldaten", eines 1947 errichteten Sowjetdenkmals, zur mehrtätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Angehörigen der russischsprachigen Minderheit. In Estland, das damals auch Opfer massiver russischer Hackerangriffe wurde, vermutet man bis heute, dass der Kreml diese Proteste provozierte.  
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