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: Warum Indien China bei Einwohnerzahl überholt

14.04.2023 | 14:34 Uhr
Lange Zeit war China das einwohnerstärkste Land der Welt. Jetzt wird es von Indien überholt. Welche Auswirkungen hat das? Sinologe Prof. Marc Andre Matten schätzt die Lage ein.

So entwickeln sich die Einwohnerzahlen in China und Indien.

14.04.2023 | 00:33 min
China und Indien haben beide mehr als 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner. Nach einer Berechnung des Informationsdienstes Science Media Center auf Basis von UN-Zahlen löst Indien China heute als bevölkerungsreichstes Land der Welt ab (mehr zur Berechnungsmethode unten).
ZDFheute: Herr Matten, wie kam es dazu, dass China zu dem Land mit den meisten Einwohnerinnen und Einwohnern wurde?
Marc Matten: Ein zentraler Faktor war die Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949. Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Asien und der Sieg im Bürgerkrieg stabilisierten die Volksrepublik in den ersten Jahren, was sich positiv auf das Wirtschaftswachstum auswirkte und den Aufbau eines Gesundheitssystems ermöglichte. All das führte dazu, dass die Einwohnerzahl in China schnell wuchs.
Eine hohe Geburtenrate war zu der Zeit auch aus politischen Gründen erwünscht. Für das Land bedeuteten mehr Arbeitskräfte - so proklamierte es der damalige Staatschef Mao Zedong - eine größere ökonomische Produktion und damit den Aufstieg des Sozialismus.
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ZDFheute: Was hat sich seitdem geändert?
Matten: Im Jahr 1979 wurde die Ein-Kind-Politik eingeführt. Zwar gab es Ausnahmen für ethnische Minderheiten und die Bevölkerung in ländlichen Gebieten - insgesamt führte die Politik aber zu einer sinkenden Geburtenrate.
Ein weiterer Punkt: Kinder sind in China heute oft mit hohen Kosten verbunden. Neben den Gesundheitskosten sind das besonders die Kosten für Bildung. Wenn man bedenkt, dass die Konkurrenz um Studienplätze und Arbeitsstellen sehr hoch ist, sind die sehr hohen Investitionen in die Bildung nicht verwunderlich.
Mehr als ein Kind ist, selbst wenn beide Elternteile Vollzeit arbeiten, kaum finanzierbar, sodass sich die Menschen oft sehr bewusst für nur ein Kind entscheiden.  

Marc Matten ...

Quelle: Privat
... ist Professor für Zeitgeschichte Chinas an der Universität Erlangen-Nürnberg.
ZDFheute: Welche gesellschaftlichen Entwicklungen haben einen Einfluss auf die Geburtenrate?
Matten: Dass die Geburtenrate in China sinkt, hat auch mit der Stellung der Frau in der Gesellschaft zu tun. Viele junge Frauen leben in Großstädten, haben hohe Bildungsabschlüsse - und sind nicht mehr bereit, den traditionellen Rollenbildern zu entsprechen.
Ein Kind zu bekommen, bedeutet für viele Frauen das Ende der Karriere - und deswegen verschieben viele die Familienplanung auf später oder verzichten ganz auf Nachwuchs.
In Indien spielt Feminismus noch eine geringe Rolle als in China. Dort herrschen oft noch sehr traditionelle Rollenvorstellungen - was sich auf die Geburtenrate auswirkt.
Während in China nahezu alle Frauen arbeiten gehen, gibt es in Indien einen viel höheren Prozentsatz an Frauen, der nicht arbeitet, sondern die Rolle als Hausfrau und Mutter übernimmt, mit den entsprechenden Auswirkungen für die Altersabsicherung. Die fehlende staatliche Absicherung kann nur über eine größere Zahl an Nachwuchs kompensiert werden.
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ZDFheute: Gibt es weitere Ursachen für das Bevölkerungswachstum in Indien?
Matten: In Indien geht die Schere zwischen Stadt und Land in Bezug auf Bildung sehr weit auseinander. Auch bei den Lebensstandards gibt es in den beiden Bereichen sehr viel größere Unterschiede als in China.
Gleichzeitig ist es in Indien so, dass die Bevölkerung vor allem auf dem Land wächst. Das geringere Bildungsniveau und dementsprechend schlechter bezahlte Jobs ermöglichen ein höheres Einkommen nur über mehr Arbeitskraft. Das Bevölkerungswachstum wird daher in Indien vermutlich länger anhalten als in China.
ZDFheute: Welche Herausforderungen werden auf China künftig zukommen?
Matten: Eine erste Schwierigkeit ist die Versorgung der Älteren. Die Pflege und Rente werden zunehmend eine Herausforderung. Wer ohne Geschwister aufgewachsen ist, ist als Sohn zuständig für zwei Elternpaare: die eigenen Eltern und die Schwiegereltern.
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Auch die Wirtschaft in China ist betroffen. Viele junge Menschen in China haben hohe Bildungsabschlüsse - und gerade die kämpfen mit Arbeitsmarktproblemen, mit Arbeitslosigkeit, was durch den wirtschaftlichen Abschwung seit Corona nicht leichter geworden ist.
Der kontinuierlich wachsende Bildungsstand führt nun dazu, dass es auf dem Arbeitsmarkt relativ gesehen weniger Arbeiter als Angestellte gibt. Im produzierenden Gewerbe führt das seit einigen Jahren dazu, dass die Produktion in Niedriglohnbranchen wie der Textil- oder Elektrobranche nach Südostasien verlagert wird, während bei der Produktion komplexer Konsumgüter vermehrt auf Automatisierung gesetzt wird, etwa in der Autoindustrie. Bei dieser Verlagerung waren bislang Vietnam und Bangladesch im Fokus - und vielleicht zukünftig auch Indien.
Laut Prognose der UN wird Indien im Jahr 2100 sogar doppelt so viele Einwohner*innen haben wie China.Quelle: Nasir Kachroo/NurPhoto via Getty Images
ZDFheute: Hat die Bevölkerungsentwicklung in China auch globale Auswirkungen?
Matten: Zum einen sind Auswirkungen auf den Klimawandel zu nennen: Eine sinkende Bevölkerung produziert weniger CO2 - allerdings nur, wenn die Pro-Kopf-Emissionen unverändert bleiben. Welche Effekte weiterhin wachsender Konsum in China langfristig haben wird, ist noch nicht ausgemacht: Der Ausbau erneuerbarer Energien und die umfassende Transformation des Verkehrssektors könnte, wenn denn erfolgreich, einen weniger starken Anstieg pro Kopf als in den westlichen Industrienationen zur Folge haben.
Zum anderen wird die Verlagerung der Produktionsstätten neue Lieferketten hervorbringen, mit neuen Märkten und neuen Abhängigkeiten, und damit geopolitischen Veränderungen, die nicht auf Ost- und Südostasien beschränkt sind.

So berechnen die UN das Bevölkerungswachstum

In ihre Weltbevölkerungs-Statistik beziehen die Vereinten Nationen (UN) nationale Volkszählungen, repräsentative Erhebungen und Personenstandsdaten ein. Um künftige Entwicklungen zu prognostizieren, werden Annahmen über Geburtenrate und Lebenserwartung getroffen. Die UN arbeiten dabei mit drei Szenarien. Die Daten in diesem Beitrag beziehen sich auf das mittlere Szenario.

Um die Zahlen im Zeitverlauf vergleichen zu können, wurden die Länder-Daten nach den aktuellen Definitionen der international anerkannten UN-Gebiete angeglichen. Einwohner*innen von Hongkong, Macau und Taiwan zählen damit nicht zur Bevölkerung Chinas.

So kommt das Science Media Center auf den 14. April 2023

Wann genau Indien mehr Einwohner*innen als China hat, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Der Informationsdienst Science Media Center hat den von den UN im mittleren Szenario für 2023 prognostizierten Bevölkerungszuwachs bzw. -rückgang gleichmäßig über das Jahr verteilt und kommt so auf den 14. April als Stichtag. Die UN selbst erklärten auf ZDFheute-Anfrage, sie erwarteten, dass Indien China bei der Bevölkerung dieses Jahr überhole, nennen aber wegen der unsicheren Daten zu Geburten und Sterbefällen kein konkretes Datum.
Das Interview führte Gary Denk.
Redaktion und Grafiken: Kathrin Wolff

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