: Lula oder Bolsonaro: Hat einer Lösungen?

von Christoph Röckerath
29.10.2022 | 20:55 Uhr
In der Stichwahl können die Brasilianer für den amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro oder Ex-Regierungschef Lula da Silva stimmen. Das Land tut sich mit beiden Kandidaten schwer.
"Bleib hier, Mann!", ruft Präsident Jair Bolsonaro seinem Widersacher, Ex-Präsident Lula da Silva, zu, als dieser sich von ihm abwendet. "Ich will nicht in Deiner Nähe sein!", brummt dieser zurück.

Zwei verfeindete Präsidentschaftskandidaten vor der Stichwahl

Die Episode, die sich während der letzten TV-Debatte vor der Stichwahl zuträgt, steht für die Lage Brasiliens. Beide Seiten stehen einander verfeindet gegenüber. Nähe besteht nur bei den Umfragewerten: In den letzten Erhebungen liegen die Präsidentschaftskandidaten fast gleichauf. Lulas einst großer Vorsprung ist dramatisch geschrumpft und droht, in der statistischen Unschärfe zu verschwinden. Das Rennen ist offen.
Der Wahlkampf ist zu einer Schlammschlacht verkommen, inklusive tödlicher Gewalt, vor allem von Seiten rechtsextremer Anhänger des Präsidenten, und stellt den fast erwartbaren Höhepunkt von vier Jahren Brasilien unter Präsident Bolsonaro dar.
Viele Beobachter bezeichnen sie als anhaltenden Stresstest für die noch junge Demokratie des Landes: Permanente Aufregung, ein "Wir-gegen-die" Diskurs, mit dem Bolsonaro nach klassischer Lehre des Populismus seine Anhänger mobilisiert und der seinen Höhepunkt Anfang September erreicht, als der Präsident ausgerechnet am Nationalfeiertag mit Blick auf die Wahl vom Kampf "Gut gegen Böse" spricht.

Bolsonaro kämpft auch mit unlauteren Mitteln

Seinen Gegner Lula bezeichnet Bolsonaro als korrupten Räuber oder Kommunisten, vorzugsweise gleichzeitig. Der von seinem Team mit einer Fülle von Fake News und Verleumdungen geführte Wahlkampf beschäftigt mehrfach die Gerichte. Zusätzlich hat Bolsonaro wiederholt, ohne jeden Beleg, Zweifel an der Rechtmäßigkeit der elektronischen Wahl gesät, sollte er sie verlieren.
Bolsonaro hat nie einen Hehl aus seiner Verehrung der Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985 gemacht. Er zeige klare autoritäre Tendenzen, sagt Oliver Stuenkel, Politikwissenschaftler aus Sao Paulo, allein schon, indem er als amtierendes Staatsoberhaupt - ähnlich wie Donald Trump in den USA - seine Anhänger für sich demonstrieren lasse, auch gegen demokratische Institutionen, etwa den Obersten Gerichtshof.
Kritiker befürchten, eine Wiederwahl könnte das Ende der Demokratie einläuten. In einem ersten Schritt könnte Bolsonaro versuchen, das Justizsystem umzubauen, so dass die in der Verfassung klug austarierte Kontrolle der präsidialen Macht, die ihm in seiner ersten Amtszeit immer wieder lästig wurde, ausgehebelt werden könnte. Zuletzt hat Bolsonaro diese Gerüchte bestritten.

Bolsonaros problematische Bilanz

Bolsonaros Bilanz nach bald vier Jahren im Amt ist problematisch für ihn. Sein wissenschaftsfeindlicher Umgang mit der Corona-Pandemie hat zu mehr als 680.000 Toten in Brasilien beigetragen. Der Raubbau am Regenwald hat extrem zugenommen, das Land auch außenpolitisch ins Abseits gestellt. Die große Ungleichheit ist weiter gestiegen. Der Hunger ist zurück. Etwa ein Drittel der Brasilianer hat nicht jeden Tag genug Essen auf dem Teller.
Die Wirtschaft wächst zwar inzwischen, Inflation und Arbeitslosigkeit sinken, doch davon profitieren verhältnismäßig wenige Menschen.
Im öffentlichen Diskurs haben Angriffe auf unabhängiges Denken, Wissenschaft und Presse spürbar zugenommen. Der Ton ist rauer geworden in Brasilien. Und so bestimmen Emotionen und Ängste die Debatten auf beiden Seiten.

Programm von Kontrahent Lula ist "Anti-Bolsonaro"

Verantwortlich für diese Lage ist aber nicht allein Bolsonaro. Brasiliens Linke hat es versäumt, eine breite Koalition gegen Rechts zu schmieden. Ex-Arbeiterführer und Präsident Lula da Silva, charismatisch, hemdsärmelig, aber nicht gefeit vor Selbstgerechtigkeit, will es selbst regeln.
Seit das Urteil gegen ihn wegen Korruption im Rahmen des sogenannten Lava-Jato Skandals während seiner Amtszeit zwischen 2003 und 2011 aus formalen Gründen aufgehoben und er aus der Haft entlassen wurde, ist alles auf seine Person zugeschnitten.
Programmatisch scheint "Anti-Bolsonaro" der wichtigste Punkt zu sein. Dass fast die Hälfte der Brasilianer ihm wegen der einstigen Skandale bestenfalls misstraut, viele ihn gar verachten, scheint er zu ignorieren. Auch ist seine Arbeiterpartei PT eher sozialdemokratisch und sicher nicht kommunistisch, aber eine klare Distanzierung zu den Regimen in Venezuela, Nicaragua oder Russland bleibt aus. Eine Erneuerung der Linken oder der Aufstieg einer bürgerlich orientierten Mitte ist mit Lula nicht möglich.
Und so scheinen sich viele Brasilianer auf die einfachen Antworten in Form der Namen zweier gegensätzlicher Kandidaten zu verlassen. Lösungen für die vielschichten Probleme des riesigen Landes spielen im Wahlkampf kaum eine Rolle. Und auf die Frage, wie das Land nach dieser Richtungswahl die tiefe Spaltung überwinden kann, hat bisher keiner der beiden Kontrahenten eine Antwort vorgelegt.
Christoph Röckerath ist Korrespondent im ZDF-Studio Rio de Janeiro.

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