Interview

: Experte: "Georgien ist abhängig von Russland"

30.04.2024 | 20:36 Uhr
Ein Gesetz spaltet Georgien: Die Regierung will den Einfluss aus dem Ausland kontrollieren, nach russischem Vorbild. Südkaukaus-Experte Marcel Röthig analysiert den Konflikt.

Ein Gesetz spaltet Georgien: Die Regierung will den Einfluss aus dem Ausland kontrollieren, nach russischem Vorbild. Südkaukaus-Experte Marcel Röthig analysiert den Konflikt.

30.04.2024 | 16:52 min
Seit Tagen kommt es in Georgien zu Massenprotesten: Zehntausende gehen auf die Straße und demonstrieren sowohl für als auch gegen ein 2023 gescheitertes und jetzt wieder neu aufgelegtes Gesetz nach russischem Vorbild – mit diesem möchte die Regierungspartei "Georgischer Traum" die Einflussnahme aus dem Ausland stärker kontrollieren.   

Als ausländische Agenten könnten bald Medien und Organisationen gelten, die mit mehr als 20% aus dem Ausland finanziert werden. Das Parlament in Tiflis diskutiert das Gesetz.

30.04.2024 | 02:55 min
Im Gespräch mit ZDFheute live analysiert Südkaukasus-Experte Marcel Röthig von der Friedrich-Ebert-Stiftung die Hintergründe des Streits um den Gesetzentwurf.  
Sehen Sie das Interview in voller Länge oben im Video und lesen Sie hier Auszüge.
Das sagt Marcel Röthig zu ...  

... der Kritik an dem umstrittenen Gesetz

Es werde immer wieder der Vergleich zu einem Gesetz in Russland gezogen – ein Gesetz über sogenannte "ausländische Agenten" – und die Ähnlichkeit sei gegeben. Organisationen, die sich für Projekte einsetzten oder sie durchführten und dafür internationale Förderung erhielten, müssten dies nach dem Willen der georgischen Regierung künftig deklarieren. Aber nicht nur das: Diese Organisationen müssten sich auch als Vertreter ausländischer Interessen registrieren.

Marcel Röthig ...

Quelle: Marcel Röthig
...leitet seit 2022 das Südkaukasus-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Der Politikwissenschaftler war für die SPD-nahe Stiftung vorher auch in der Ukraine und in Russland tätig.
"Es geht nicht mehr um Transparenz, wie die Regierungspartei argumentiert, sondern um Verleumdung", sagt Röthing. Der Ehrenvorsitzende der Regierungspartei "Georgischer Traum" bezeichne NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen, Anm. d. Red.) als Handlanger des Westens und erkläre, der Westen wolle Georgien in einen Krieg hineinziehen. Für Marcel Röthig sind das nur Scheinargumente. In Wahrheit versuche die Partei mit Blick auf die Parlamentswahlen im Herbst, ihre Macht zu sichern.  

... der Strategie der georgischen Regierung

Für die Regierung habe sich die Ausgangslage geändert. 2023 sei das Gesetz schon einmal eingebracht worden – sei damals aber am Druck von der Straße gescheitert. Die Sicherheitsorgane hätten dem Oligarchen und Gründer der Regierungspartei, Bidina Iwanischwili, damals signalisiert, dass sie angesichts der Massenproteste die Kontrolle verlieren könnten, erklärt Röthig.

Zehntausende demonstrieren seit Wochen in Georgien gegen ein umstrittenes Gesetz. Sie haben Angst, dass die Regierung mit Hilfe des Gesetzes prowestliche Aktivisten verfolgen kann.

30.04.2024 | 01:43 min
Außerdem hätte die Frage im Raum gestanden, ob Georgien EU-Beitrittskandidat werde oder nicht – und das Gesetz habe als Ausschlusskriterium gegolten. Zu diesem Zeitpunkt habe sich die Regierung verkalkuliert. Jetzt sei die Situation eine andere. Georgien sei Beitrittskandidat – diese Drohung habe die EU nicht mehr. Röthig verweist außerdem auf die anstehenden Wahlen im Oktober.  
Es geht darum, das nationalkonservative Elektorat hinter sich zu vereinen, die Opposition zu schwächen und mit ihr auch die Zivilgesellschaft.   
Marcel Röthig
Ein weiterer wichtiger Faktor für die georgische Regierung: die aktuelle Lage in der Ukraine. Als das Gesetz 2023 diskutiert worden sei, habe die ukrainische Gegenoffensive kurz bevor gestanden – viele Hoffnungen hätten darauf gelegen, dass Russland zurückgeschlagen werde, so Marcel Röthig. Der Krieg gehe aber weiter mit unverminderter Härte.
Teile der Regierungspartei spekulierten wohl darauf, dass sich Moskau mittelfristig durchsetze, dadurch Russland wieder selbstbewusster und aktiver in anderen Nachbarregionen werde, so der Experte. Georgien sei zu etwa 20 Prozent russisch besetzt. Gewisse Urängste seien da nachvollziehbar.  
So ist es sicherlich auch ein Signal nach Moskau: Seht her, wir wollen es mit der Europäischen Union nicht allzu weit treiben.
Marcel Röthig

... zur Rolle Russlands in Georgien

Teile Georgiens seien seit dem Fünf-Tage-Krieg 2008 von Russland besetzt, würden vom Kreml als unabhängige Staaten anerkannt und von russischem Militär kontrolliert: die Gebiete Südossetien und Abchasien. Allein geografisch könne Russland also eine Drohkulisse aufbauen, sagt Röthig. Der Norden und Süden des schmalen Landes, das etwa die Größe Bayerns habe, sei sehr bergig.

Georgien gilt seit jeher als russische Einflusssphäre. Viele Menschen überlegen, wie sicher ihre Zukunft dort ist. Protestierende Studierende fordern den Eintritt in die EU.

30.03.2023 | 02:18 min
In der Mitte befinde sich eine große Ebene. Hier verlaufe die Hauptverkehrsachse zum Schwarzen Meer. "Russland kann
innerhalb weniger Minuten die Feuerkontrolle über diese Achse gewinnen und das Land faktisch in zwei Teile teilen." Weil Georgien nicht an die Nato grenze, kein Mitglied sei und die benachbarte Türkei kein Unterstützer sei, habe man nicht die Sicherheit der Ukraine – auch nicht die Tiefe des Raums.  
Außerdem gebe es enge wirtschaftliche Verflechtungen: Georgien sei hochgradig abhängig von Russland, auch bei Grundnahrungsmitteln. Mehr als 90 Prozent des Weizenmehls komme aus Russland. Umgekehrt sei Russland wichtigster Exportmarkt für Mineralwasser oder Wein.  

...zum Einfluss des Milliardärs Iwanischwili

Bisdan Iwanischwili sei der reichste Mann des Landes, er sei in den 90er Jahren zu viel Geld gekommen und bestens in Russland vernetzt, sagt Röthing.  
Iwanischwili ist ein Oligarch der alten Schule
Marcel Röthig
Er sei Gründer der Regierungspartei "Georgischer Traum", die seit 2012 an der Macht sei. Zwar habe Iwanischwili kein offizielles Staatsamt, sei nur Ehrenvorsitzender seiner Partei, habe die Öffentlichkeit über Jahre gemieden und das Land nicht verlassen – aber jede Entscheidung werde mit ihm besprochen, wenn nicht sogar von ihm im Schatten getroffen, so Marcel Röthig.
Dem Land gehe es wirtschaftlich so gut wie lange nicht – aber seine Partei überlebe damit, das Land zu spalten und nicht zu einen. Für den Machterhalt sei man im Zweifelsfall bereit, die EU-Ambitionen aufzugeben oder sogar einzufrieren.  

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