: Iran: Wie wahrscheinlich ist ein Umsturz?

von Katja Belousova
25.10.2022 | 14:37 Uhr
Die aktuellen Proteste in Iran haben eine neue Dynamik im Vergleich zu früheren Aufständen. Doch werden sie zu einem Sturz des Teheraner Regimes führen?
An vorderster Front der aktuellen Proteste im Iran stehen Frauen.Quelle: Uncredited/AP/dpa
Kaum ein Tag vergeht ohne neue Protestbilder oder Nachrichten aus Iran. Seit Wochen demonstrieren Menschen im Land gegen das Mullah-Regime, vor allem Frauen stehen auf gegen den Kopftuch-Zwang und für mehr Freiheiten.
Wird der Protest, der sich am Tod der jungen Mahsa Amini entzündete, sein Ziel erreichen? Werden die Menschen in Iran einen Regime-Sturz erwirken können? ZDFheute hat diese Fragen mit Expert*innen diskutiert.

Protest in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit

Dass Menschen in Iran auf die Straße gehen, ist nicht neu. Der iranische Staat in seiner aktuellen Form ist selbst nach Massenprotesten entstanden. 1979 führte die sogenannte "Islamische Revolution" zum Ende der Monarchie und der Gründung der Islamischen Republik unter Ajatollah Chomeini.
Und zwischen den Protesten damals und heute gebe es Gemeinsamkeiten, erklärt Simon Wolfgang Fuchs, Islamwissenschaftler und Iran-Experte von der Uni Freiburg: "Beide entstanden in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit". Sowohl in den 1970ern als auch heute bereitete die Inflation große Sorgen und die Bevölkerung fühlte sich von der Regierung im Stich gelassen.

Aktuelle Iran-Proteste mit neuer Dynamik

In den vergangenen Jahren kam es im Land immer wieder zu Protesten - diese intensivierten sich seit der "grünen Bewegung" 2009, als Iraner*innen gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl auf die Straße gingen. Bis dato sind die Proteste am Ende immer wieder zerschlagen worden.
Aktuell sehen Expert*innen aber eine neue Dynamik: "Dass die aktuellen Proteste nicht so schnell unterbunden werden können, zeigt: Sie haben eine andere Dynamik entwickelt als die Aufstände vergangener Jahre. Das liegt auch daran, dass die Proteste nicht nur von einer Gruppe ausgehen, sondern von verschiedenen Bevölkerungsschichten", erklärt Konfliktforscherin Mariam Salehi von der FU Berlin.
Dazu ist es vor allem dadurch gekommen, dass Iraner*innen in den letzten Jahren gemerkt haben, dass sich ihre Versorgungslage verschlechtert hat. Das schürt die Wut aufs Regime, das zwar Waffen und Kriege im Ausland finanzieren kann, aber nicht das Auskommen der eigenen Bevölkerung.
Mariam Salehi, FU Berlin

Hat die Protestbewegung genug Ausdauer?

Tareq Sydiq, Protestforscher mit Schwerpunkt Iran von der Uni Marburg, stellt vor allem zwei Eigenschaften heraus, die eine erfolgreiche Protestbewegung brauche: "Ausdauer und eine gewisse Breite der Bewegung." Zweiteres sei in Iran aktuell klar zu beobachten: Die dezentralen Strukturen sorgten dafür, dass die Bewegung breit aufgestellt und für Sicherheitskräfte schwerer zu zerschlagen sei.
Weil jede landesweite Oppositionsbewegung zerschlagen wurde, organisierte sich die Politik in Iran zunehmend in lokal verankerten Vereinigungen, die jetzt die Proteste unterstützen: Umweltaktivist*innen aus dem Süden, Arbeiter*innen in der Ölindustrie, das Prekariat in den Städten, die kurdische Mittelschicht und viele mehr.
Tareq Sydiq, Uni Marburg
Doch die Frage nach der Ausdauer bleibt: "Die Mobilisierung gegen das Regime ist sehr breit, noch ist aber unklar, ob sie auch die Ausdauer hat für einen langwierigen Umsturz", sagt Sydiq.
Zudem hänge es nicht allein von den Protestierenden ab, ob es zu einem Regime-Sturz kommt. Das Regime müsste zusätzlich seine Unterstützungsbasis einbüßen und Legitimität verlieren, erklärt Sydiq.
Wir sehen, dass das Regime seit Jahren an Rückhalt verliert, dennoch hat es weiterhin seine Unterstützer*innen - das genaue Verhältnis kennen wir aber nicht und es könnte entscheidend sein beim weiteren Verlauf der Proteste.
Tareq Sydiq, Uni Marburg

Wie wahrscheinlich ist ein Umsturz?

"Bis zu einem solchen Umsturz muss noch viel geschehen", hält Mariam Salehi fest. "Unwahrscheinlich ist ein Regime-Sturz aber nicht - denn der Iran befindet sich gerade in einem revolutionären Prozess, der kaum zurückzudrehen ist."
Simon Wolfgang Fuchs sieht bei den aktuellen Protesten vor allem ein Problem: die große Spontaneität und Ungeplantheit der Proteste, das Fluide also, sei große Stärke und Schwäche gleichermaßen.
Während sich 1979 Ajatollah Chomeini als die Führungsfigur herauskristallisierte, auf die sich Protestierende vom linken bis zum religiösen Lager einigen konnte, fehlt der Opposition heute eine solche Figur.
Simon Wolfgang Fuchs, Uni Freiburg
Auch bei der Frage, wie weit der Protest wirklich in alle Bevölkerungsschichten des Landes hineinreicht, ist Fuchs noch skeptisch: "Die anfängliche Hoffnung, dass der Protest aus der Bubble der jungen Bevölkerung und der Studierenden herauskommt und wirklich in alle möglichen Klassen und Bevölkerungsschichten und Altersschichten vorstößt, hat sich in den letzten Wochen etwas zerschlagen", sagt er.
Vor allem die mittelalte Generation, die zuvor so viele niedergeschlagene Proteste erlebt hat, sei noch zurückhaltend. Auch weil die Sicherheitskräfte zwar in Teheran und manchen Metropolregionen sich aktuell mehr zurückhalten würden, in der Peripherie, abseits der Großstädte aber härter durchgriffen.

Parallelen zur Iranischen Revolution 1979?

Im Moment schätzt er einen Regime-Sturz als eher unwahrscheinlich ein - vor allem, weil es in Iran weder eine organisierte Oppositionsstruktur noch wirkliche Anzeichen für Abnutzungserscheinungen bei den Sicherheitskräften gebe.
Doch er gibt zu bedenken: Schon 1979 haben die wenigsten an einen Regime-Sturz geglaubt.
Wenn wir uns Geheimdienstberichte aus der Zeit ansehen, waren die felsenfest davon überzeugt, dass die Monarchie fest im Sattel sitzt.
Simon Wolfgang Fuchs, Uni Freiburg
Es kam bekanntlich anders. Diese große Unsicherheit, die weitere Entwicklung in Iran abzuschätzen, sei eine weitere große Gemeinsamkeit zwischen 1979 und heute.

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