: Meisterwerk oder Milliardengrab?

18.06.2023 | 10:27 Uhr
Fast alle Tunnel sind gebohrt, die neue unterirdische Bahnhofshalle nimmt mehr und mehr Gestalt an. 2025 sollen die ersten Züge rollen. Doch Stuttgart 21 polarisiert weiter.

Seit der Vorstellung des Mega-Projekts vor knapp 30 Jahren gibt es große Kritik daran. Fertiggestellt ist Stuttgart 21 noch immer nicht. Aktuell geht es um die Digitalisierung.

18.06.2023 | 01:32 min
Wer im Moment in Stuttgart am Hauptbahnhof zu den Zügen kommen will, der muss einen ziemlichen Umweg in Kauf nehmen. In einem weiten Bogen führt ein Steg um das alte, komplett entkernte Bahnhofsgebäude herum zu den Bahnsteigen. Ohne mehr Zeit einzuplanen, geht es nicht - und das schon seit Monaten.
Wer sich allerdings für den Fortschritt auf Deutschlands derzeit größter Baustelle interessiert, für den bietet dieser Umweg zumindest interessante Impressionen: Durch Plexiglasscheiben blickt man direkt auf das, was die Deutsche Bahn das Herzstück von Stuttgart 21 nennt: den Rohbau des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofes, der mehr und mehr Gestalt annimmt.

Sendehinweis ZDF.Reportage

Die Reportage "Baustelle XXL - Stuttgart 21" ist am Sonntag, 18. Juni, 18 Uhr im ZDF zu sehen und schon jetzt in der ZDF-Mediathek.

Stuttgart 21: Teilweise wird 24 Stunden am Tag gearbeitet

Der größte Teil des Daches der neuen unterirdischen Bahnhofshalle ist inzwischen fertiggestellt. Die 28 markanten Kelchstützen, die das Dach tragen und an deren oberen Ende später riesige Dachfenster, sogenannte Lichtaugen eingebaut werden, sind betoniert.

Stuttgart 21 – Deutschlands größte Baustelle, technisch enorm anspruchsvoll und immer noch umstritten. Arbeiten unter höchstem Zeitdruck, damit der Bahnhof endlich fertig wird.

18.06.2023 | 30:10 min
Auch an vielen anderen Stellen im Stadtgebiet wird unentwegt gearbeitet, teilweise 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Am Flughafen bohren sie die letzten von rund 60 Tunnelkilometern für neue Zulaufstrecken zum Hauptbahnhof, in den Tunneln rund um den neuen Hauptbahnhof liegen teilweise schon Gleise.

Bahn verspricht: Keine weiteren Verzögerungen

Das Tempo hochhalten: Für die Bahn gibt es dazu keine Alternative. Einerseits will man sich die öffentliche Schmach, den Eröffnungstermin noch einmal verschieben zu müssen, unbedingt ersparen. Andererseits kostet jede weitere Verzögerung weitere zig Millionen, gerade in Zeiten hoher Inflation und explodierender Preise am Bau.
9,8 Milliarden Euro beträgt der Kostenrahmen für Stuttgart 21 inzwischen; bei Baubeginn 2010 ging man noch von Kosten von maximal 4,5 Milliarden aus, als 1995 eine Rahmenvereinbarung unterzeichnet wurde noch von maximal 2,5 Milliarden Euro. Von einer Kostenexplosion zu sprechen, scheint angesichts dieser enormen Steigerung keinesfalls untertrieben.
Der Zeitplan wird gehalten.
Olaf Drescher, Chef des Bahnprojekts Stuttgart 21

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Drescher verspricht, dass Stuttgart 21 Ende 2025 in Betrieb geht, das wäre sechs Jahre später als bei Baubeginn geplant. Verzögerungen, die es derzeit gibt, werde man aufholen. Bei den Lichtaugen sei man derzeit beispielsweise rund acht Monate im Verzug, das werde man dadurch kompensieren, dass für diese riesigen Dachfenster nun Schweißroboter eingesetzt würden: "Sie können 24/7 arbeiten, dadurch kommen wir deutlich schneller zu Potte".

Stuttgart 21: Wahrgewordene Architektenträume

Und doch bleibt bei vielen die Frage: Warum ist das alles so teuer - teurer gar als der Berliner Pannenflughafen BER, der final rund sieben Milliarden Euro gekostet hat. Ein Teil der Erklärung ist sicher, dass für Stuttgart 21 eben nicht nur ein einzelnes Bahnhofsgebäude gebaut wird, sondern insgesamt vier neue Bahnhöfe, außerdem neue Zulaufstrecken, die durch 16 neue Tunnel und Durchlässe in teils schwierigster Geologie und über 44 neue Brücken führen.

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Außerdem kamen während der letzten Jahre neue Anforderungen durch aktualisierte technische Regelwerke und Gesetze hinzu, was Nachbesserungen verlangt hat. Ein anderer, ebenso entscheidender Teil der Erklärung ist aber auch: Die Architekten haben bei ihren Entwürfen und Planungen geklotzt statt gekleckert - abgesegnet von der Politik.
Beispiel Kelchstützen: Einfache Säulen hätten das Dach der zukünftigen Bahnhofshalle sicher auch gehalten - stattdessen hat man futuristisch geschwungene Pfeiler entworfen, von denen bei ihrer Planung noch nicht einmal klar war, ob und wie sie überhaupt gebaut werden können. Monatelang dauert es an jeder Kelchstütze allein, die Konstruktion aus 22.000 einzeln vermessenen Eisenstäben zu flechten, die dann anschließend nicht mit irgendeinem Beton gegossen werden, sondern mit einem weißen Spezialbeton, der weltweit so noch nie zuvor eingesetzt wurde.
Ich glaube, eine spektakuläre Planung, ein spektakuläres Bauwerk, muss immer ein bisschen größenwahnsinnig sein.
Olaf Drescher, S21-Projektchef

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Kritiker: Stuttgart 21 wird nicht funktionieren

Das kommt bei Projektkritikern, die in Stuttgart nach wie vor aktiv sind und Demos organisieren, sicher nicht gut an. Viel zu gering sei die Kapazität des neuen Hauptbahnhofs mit seinen acht Gleisen, auch innen sei alles viel zu eng.
Die Stuttgarter werden auf viele Jahre keinen funktionierenden Bahnhof haben.
Werner Sauerborn, Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21
Außerdem halten Sie den Brandschutz für nicht ausreichend, warnen vor eine Tragödie im Falle eines Brandes im Tunnelnetz. Und sie kritisieren die immensen Kosten, die durch das Bauwerk entstehen.
Die Bahn sieht das wenig überraschend anders. Beim Brandschutz verweist Projektchef Drescher auf "europäische Normen, die wir eins zu eins einhalten." In Sachen Kapazität sieht er den neuen Hauptbahnhof als "deutlich modernere und leistungsfähigere Form des Eisenbahnbetriebs."

Nach zehn Jahren Bauzeit ist es soweit, ein Teil der umstrittenen Stuttgart 21 Strecke ist in Betrieb. Auf den 60 Kilometers von Wendlingen nach Ulm gibt es zwölf Tunnel und 37 Brücken. Künftig sind die Züge 15 Minuten schneller am Ziel.

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Auf der Projekt-Webseite verspricht man klare Vorteile für Reisende: Weniger Verspätungen, Kapazität für zusätzliche Züge und kürzere Reisezeiten. So werde sich etwa die Fahrzeit von Stuttgart nach Ulm zukünftig nahezu halbieren und nur noch rund 30 Minuten betragen.

Meisterwerk oder Milliardengrab?

Wer am Ende Recht behält, wird sich wohl erst dann zeigen, wenn Stuttgart 21 in Betrieb geht. Dann wird auch klarer werden, ob Stuttgart 21 wirklich ein Meisterwerk oder doch eher ein Milliardengrab ist. Für den Moment bleibt vielen Bahnreisenden nur der Blick auf eine imposante Baustelle - und die Hoffnung, dass sich all die Umwege und Baugruben in der Stadt irgendwann einmal auszahlen.

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