FAQ

: Was bedeutet der Erdogan-Sieg für die Türkei?

von Narîn Şevîn Doğan, Istanbul
29.05.2023 | 08:30 Uhr
Amtsinhaber Erdogan bleibt Präsident der Türkei. Was das Ergebnis bedeutet, wie fair die Wahlen waren und wie es für die Opposition nach der Niederlage weitergeht.

Bei der historischen Stichwahl in der Türkei hat sich der amtierende Präsident Erdoğan gegen Herausforderer Kılıçdaroğlu durchgesetzt. Das Ergebnis war knapper als zuvor erwartet.

28.05.2023 | 02:38 min
Die Türkei hat gewählt: Am Sonntagabend ging die Stichwahl zwischen Präsident Erdoğan und Herausforderer Kılıçdaroğlu zu Ende. Zur Stimmabgabe aufgerufen waren insgesamt 61 Millionen Türk*innen - zum zweiten Mal innerhalb von 14 Tagen.

Was bedeutet das Ergebnis für die Zukunft der Türkei?

Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan hat die Stichwahl mit rund 52 Prozent der Stimmen für sich entschieden. Seit 20 Jahren ist Erdoğan an der Macht. Seit 2018 als Präsident, der direkt vom Volk gewählt wird. Um das zu ermöglichen, hatte er eine Verfassungsreform durchgesetzt.
Die Türkei entwickelte sich damit vom parlamentarischen Regierungssystem zu einem Präsidialsystem. Seine Kritiker*innen fürchten, dass der Präsident nach seiner Wiederwahl noch autoritärer regieren und seine Gegner verfolgen wird.
Welche Performance der Staatspräsident darlegen wird, haben wir in den letzten 20 Jahren, aber allen voran in den letzten fünf Jahren sehen können, wo sich eine immer stärkere Autorität bemerkbar gemacht hat.
Suat Özcelebi, Politikwissenschaftler
Erdogan wird mit der ultranationalistischen MHP und der islamistischen, kurdischen HÜDA-PAR regieren. Seine Bündnispartner hatten unter anderem im Wahlkampf angedroht, ein Gesetz zum Schutz von Frauen vor Gewalt zu ändern und damit die Beweispflicht gegenüber Männern zu verschärfen.

Ein Gesetz, das Frauen gegen Männer-Gewalt schützt, ist im Zuge des Wahlausgangs gefährdet.

10.05.2023 | 02:35 min
Die türkische Lira hat in den vergangenen zwei Jahren massiv an Wert verloren, die Inflation im Land liegt bei rund 44 Prozent. So steht Erdogan vor der großen Herausforderung, ein wirtschaftlich stark angeschlagenes und politisch gespaltenes Land zu einen. Um seine Ziele zu erreichen, wird er voraussichtlich innenpolitisch weiterhin einen harten Kurs fahren und außenpolitisch neue Gespräche führen.

Was bedeutet die Niederlage für die türkische Opposition?

Kemal Kılıçdaroğlu hat die Stichwahl mit 48 Prozent der Stimmen verloren. Und auch sein Wahlbündnis aus sechs Parteien hatte bei den Parlamentswahlen vor zwei Wochen einen geringeren Anteil im Parlament bekommen als Erdoğans Bündnis.
Noch am Abend bezeichnete Kılıçdaroğlu die Wahl um das Präsidentenamt als die "ungerechteste" Wahl, die es je gegeben habe. Der Politiker machte aber deutlich, dass er weiterkämpfen wolle.

Grund für das Ergebnis sei, "dass Erdogan ein Vakuum füllt", sagt Bundestagsabgeordnete Serap Güler. Viele bekämen das Gefühl, durch ihn "ist die Türkei wieder wer".

28.05.2023 | 05:24 min
Für die Wählerschaft der linken und pro-kurdischen Partei HDP stand die Grüne Linkspartei (Yeşil Sol Parti) zur Wahl. Die HDP selbst befindet sich seit Monaten in einem Parteiverbotsverfahren. Der Partei wird immer wieder vorgeworfen, sich nicht genug von der militanten Organisation PKK zu distanzieren.
Der ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş sitzt seit 2016 in Haft. Urteile des Europäischen Gerichtshofs zur Freilassung von Demirtaş sind bislang wirkungslos.
Kilicdaroglu vereinte sechs Parteien in seinem Bündnis, doch die politischen Ausrichtungen gingen weit auseinander. Die HDP unterstützte indirekt seine Kandidatur, macht aber alleine  Wahlkampf. Alle Oppositionsparteien vereinte ein Ziel: Erdogan loswerden. In Zukunft wird die Opposition noch eine einheitlichere Linie finden müssen, um Erdogan noch mehr Konkurrenz machen zu können. 
Die Zukunft ist sowieso vernebelt, doch uns scheint eine dunkle Zukunft zu erwarten. Und es wird schwierig abzusehen, wann wir aus dieser Dunkelheit wieder herauskommen können.
Cengiz Çandar, Politiker der Grünen Linkspartei

Wie fair sind die Wahlen verlaufen?

Die Abstimmung wurde von internationalen Wahlbeobachter*innen der OSZE und des Europarats verfolgt. Bisher gab es keine Meldungen von Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung. Während der Abstimmung selbst wurde immer wieder von Angriffen auf Wahlbeobachter in Istanbul und im Südosten des Landes berichtet.

EU-Abgeordneter Sergey Lagodinsky (Grüne) ist Vorsitzender der EU-Türkei-Delegation im Europäischen Parlament. Er sagt, die Wahlen "waren nicht ganz fair".

16.05.2023 | 09:45 min
Teil der Erfolgsgeschichte Erdoğans sind auch die ungleichen Ausgangsbedingungen bei Wahlen. Der Wahlkampf, so internationale Wahlbeobachter, war von Anfang an unfair. Erdogan kontrolliere den Großteil der Medien, die Opposition kam kaum in der Berichterstattung vor und wenn, dann meist negativ.

Was waren die wichtigsten Themen im Wahlkampf?

Zentrale Themen waren vor allem die wirtschaftliche Lage und Vorschläge, diese zu verbessern. Die Folgen des Erdbebens spielten ebenfalls eine zentrale Rolle im Wahlkampf, besonders vor der Parlamentswahl am 14. Mai.
Präsident Erdoğan hat ein gigantisches und vor allem schnelles Wiederaufbauprogramm versprochen. Der Fokus lag primär auf innenpolitischen Themen. Kılıçdaroğlu hatte versprochen, das Präsidialsystem wieder in ein parlamentarisches System zu überführen, demokratische Verhältnisse herzustellen und Rede- und Pressefreiheit zu ermöglichen. Er wollte wieder bessere Beziehungen zum Westen aufbauen.
Aber auch nationalistische Rhetorik in Bezug auf syrische Geflüchtete war Teil des Wahlkampfs - besonders nach der ersten Runde verhärtete sich der Ton auch bei Kılıçdaroğlu. Er wollte die Nationalist*innen im Land für sich gewinnen, die davor den ultranationalistischen drittplatzierten Präsidentschaftskandidaten Sinan Ogan und sein Wahlbündnis gewählt hatten.

Wie schauen die 1,5 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland auf das Ergebnis?

In Deutschland hat Erdoğan auch in der Stichwahl eine große Mehrheit der Stimmen für sich entscheiden können. Rund 67,5 Prozent der Wahlberechtigten aus Deutschland haben für ihn gestimmt.

Erdogan habe es verstanden, "seine Wähler nochmal zu mobilisieren", berichtet Türkei-Korrespondent Jörg Brase und verweist auf "die Medienmaschine, die für Erdogan gekämpft hat".

28.05.2023 | 02:08 min
Bundesagrarminister Cem Özdemir zeigte sich enttäuscht über das Wahlverhalten der Türken in Deutschland. Die Anhänger Erdoğans feierten, "ohne für die Folgen ihrer Wahl einstehen zu müssen", schrieb der Grünen-Politiker auf Twitter.
Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoğlu, sagte, dass es eine gespaltene Situation in Deutschland gebe, was die Türkei-Politik angehe. Es sei ein hoch emotionalisierter Wahlkampf von beiden Seiten gewesen.
Und man weiß: Wenn es um Emotionen geht, kann eigentlich niemand gegen Erdogan gewinnen.
Gökay Sofuoğlu, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland

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