: Greift der Staat wirklich durch?

05.01.2023 | 19:30 Uhr
Nach der Gewalt gegen Einsatz- und Rettungskräfte in der Silvesternacht sprechen Richter Andreas Müller und Sozialarbeiter Burak Caniperk bei ZDFheute live über Konsequenzen.

Jugendrichter zu härteren Strafen nach Silvesternacht

355 Verfahren unter anderem wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und gefährlicher Körperverletzung, 33 verletzte Einsatzkräfte, 145 Tatverdächtige: Das ist die Bilanz der Silvesternacht in Berlin. Teilweise musste die Polizei ausrücken, um Feuerwehrleute beim Löschen von Bränden gegenüber vor Angriffen zu schützen. Auch in Nordrhein-Westfalen wurden rund 250 Menschen vorübergehend von der Polizei in Gewahrsam genommen.
Die gewaltsamen Ausschreitungen in Berlin und in anderen Städten haben eine Debatte über Integration ausgelöst, Forderungen nach Konsequenzen für die mutmaßlichen Straftäter werden laut. So spricht sich Bayerns Ministerpräsident Söder für härtere Strafen für "Chaoten" aus. "Den Taten – egal von wem und wo in Deutschland – müssen unmittelbar Strafen durch Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte folgen, ohne Wenn und Aber", sagte SPD-Fraktionsvize im Bundestag, Dirk Wiese. "Konsequent und schnell" müssten Angriffe auf Rettungskräfte und Polizei bestraft werden – und das nicht nur an Silvester.
Politische Forderungen nach härteren Strafen hingegen kritisiert Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds (DStGB). Er beklagt eine zu zögerliche Ausschöpfung der bestehenden rechtlichen Möglichkeiten: "Der Strafrahmen interessiert doch die Leute überhaupt nicht, aber wenn sie dafür zu zehn Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt werden, das spricht sich herum", so Landsberg.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser fordert harte Strafen:
Brauchen wir härtere Strafen oder wird geltendes Recht nicht genug durchgesetzt? Fehlt es an abschreckenden Maßnahmen bei Gewalt gegen Rettungskräfte und Polizei oder an Präventionsarbeit? Darüber spricht ZDFheute live mit Jugendrichter Andreas Müller und Sozialarbeiter Burak Caniperk.

Gesetzesverschärfung von 2017 bestraft Angriffe auf Helfer härter

Bundeskanzler Olaf Scholz ließ am Montag über eine Regierungssprecherin mitteilen, dass der Rechtsstaat es nicht zulassen dürfe, "dass Menschen, die in unseren Städten friedlich feiern und Einsatzkräfte, die ihren Dienst tun, derartigen Übergriffen ausgesetzt sind". Die gesamte Bundesregierung verurteile die Taten aufs Schärfste, sagte Vizeregierungssprecherin Christiane Hoffmann. Innenministerin Nancy Faeser betonte, dass es keine härteren Strafvorschriften brauche, sondern die bestehenden müssten "mit aller Konsequenz angewandt und durchgesetzt werden".
In Berlin wird aktuell unter anderem wegen sogenannter "tätlicher Angriffe auf Vollstreckungsbeamte" ermittelt. Der eigens zum Schutz von Einsatzkräften geschaffene Straftatbestand geht auf eine Gesetzesverschärfung aus dem Jahr 2017 zurück. Das gilt nicht nur für Polizeibeamte, sondern beispielsweise auch für Kräfte der Feuerwehr oder der Rettungsdienste.

Rechtslage bei Angriffen auf Einsatzkräfte

Seit 2017 gibt es ein eigenes Gesetz, das schärfere Straftatbestände für Angriffe auf Rettungs- und Sicherheitskräfte verankerte. Bis zu fünf Jahre Haft können seitdem für solche Angriffe verhängt werden. Es geht dabei um Attacken auf Polizeibeamte, Kräfte der Feuerwehr, des Katastrophenschutzes und der Rettungsdienste, auf Staatsanwälte und Feldjäger.

Vor der Verabschiedung des Gesetzes galt eine besondere Strafandrohung nur für Angriffe während Vollstreckungshandlungen wie etwa Festnahmen. Seit 2017 gilt die Strafandrohung während jeglicher Diensthandlung.

Das "Gesetz zur Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften" sorgt seitdem aber dafür, dass solche Taten besonders hart bestraft werden können. Zur Begründung heißt es im Gesetzestext: Ein Angriff auf Einsatzkräfte sei "zugleich ein Angriff auf die öffentliche Sicherheit, da er zu einer Beeinträchtigung der Hilfeleistung führen kann".

Zahl der Gewalttaten gegen Polizeibeamte steigt

Das Bundeskriminalamt registrierte für das Jahr 2020 knapp 39.000 Gewalttaten gegen Polizeibeamtinnen und -beamte. Seit 2012 sei die Anzahl der Gewalttaten gegen Polizeibeamte um 20 Prozent und die Anzahl der als Opfer registrierten Beamten sogar um 42 Prozent gestiegen.

Die Opfer bei anderen Einsatzdiensten wie etwa Feuerwehr und Rettungssanitäter sind hier noch nicht mitgezählt.

Quelle: AFP

Auch der Neuköllner Streetworker Ralf Gilb sagt im Interview mit der taz, dass es wichtig sei, straffälligen Jugendlichen Grenzen aufzuzeigen. Vor allem aber fordert er mehr Jugendarbeit und eine Auseinandersetzung mit der Lebensrealität von abgehängten Jugendlichen:
Die Jugendlichen, die ja häufig wirklich einen Migrationshintergrund haben, sind ihr ganzes Leben von Rassismus betroffen. Viele haben schlechte Erfahrung mit einigen Beschäftigten der Polizei gemacht. In solchen Momenten entladen sich Ausgrenzungserfahrungen: mangelnde Chancen, mangelnde Teilhabe, das Gefühl, abgehängt zu sein. Das ist das eigentliche Problem – und eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Ralf Gilb, Streetworker
Der Bielefelder Gewaltforscher Andreas Zick warnt indes davor, für die Angriffe Menschen mit Migrationshintergrund verantwortlich zu machen. "Dass Silvester so gewalthaltig war, reiht sich ein in einen Anstieg an Gewalt in der gesamten Gesellschaft", so Zick gegenüber dem "RedaktionsNetzwerk Deutschland".
Mit Material von ZDF, AFP und dpa

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