: Erdbeben: Nächste Katastrophe in Istanbul?

von John A. Kantara
19.02.2023 | 08:00 Uhr
Mehr als 40.000 Menschen starben beim Erdbeben in der Türkei und in Syrien. Es war leider absehbar - und kann sich in Istanbul jederzeit wiederholen.

Schon 2006 habe ich für das ZDF zum Erdbebenrisiko in Istanbul berichtet und welche Maßnahmen man sofort ergreifen müsste. Passiert ist seitdem so gut wie nichts.

Gebäude in Istanbul oft schnell errichtet

Istanbul gilt mit über 16 Millionen Einwohnern als Megacity. Alle Menschen in der Stadt am Bosporus leben mit einem sehr hohen Erdbebenrisiko. Das große Beben kann jederzeit kommen. Trotzdem wächst die Stadt jedes Jahr um fast vier Prozent. Über Jahrzehnte wurden viele der Wohngebäude in Istanbul, wie überall in der Türkei, aufgrund des Bevölkerungszuwachses schnell, ohne Sorgfalt und teilweise illegal errichtet.

Terra-X-Kolumne auf ZDFheute

In der Terra-X-Kolumne auf ZDFheute beschäftigen sich ZDF-Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten wie Harald Lesch, Mirko Drotschmann und Jasmina Neudecker sowie Gastexpert*innen jeden Sonntag mit großen Fragen der Wissenschaft - und welche Antworten die Forschung auf die Herausforderungen unserer Zeit bietet.
Auf dem Papier gibt es die Bauvorschriften für erdbebensichere Gebäude und Kontrollen derer schon lange. Doch ist vieles davon offenbar nicht eingehalten worden, wenn man die Bilder aus der Südosttürkei nach dem Erdbeben sieht. Nun ist die Türkei wieder auf der Jagd nach korrupten Bauunternehmern, die für die Katastrophe mitverantwortlich gemacht werden.

Tsunami könnte in Istanbul zusätzlich Schäden anrichten

Zurück nach Istanbul: Nur 15 Kilometer von der Stadt entfernt verläuft am Grund des Mamarameeres mit der "Nordanatolischen Seitenverschiebung" eine geologische Störungszone. Hier schiebt sich südlich der Prinzeninseln die anatolische Kontinentalplatte seitwärts entlang der eurasische Kontinentalplatte - jedes Jahr um 25 Millimeter.
Deshalb wurde die Metropole in ihrer Geschichte immer wieder von schweren Erdbeben heimgesucht. Je nachdem wie der unterseeische Grabenbruch vor Istanbul reißt, ist auch mit verheerenden Flutwellen zu rechnen. Denn senkt sich der Seeboden plötzlich, wird ein Tsunami unvermeidbar. Sechs Meter hohe Flutwellen sind historisch belegt. Die den Prinzeninseln gegenüberliegenden Stadtteile Istanbuls, die tief gelegen sind, wären stark betroffen.

Wie entstehen Erdbeben? Die Gesteinsplatten der Erdkruste sind ständig in Bewegung. Sie können sich verhaken und eine enorme Spannung aufbauen. Löst sich diese ruckartig, rutschen die Platten weiter. Die Erde bebt.

26.09.2022 | 01:44 min

Erdbeben: 125-fache Energie der Hiroshima-Bombe freigesetzt

Reißt die "Nordanatolische Seitenverschiebung" in der Mitte des Marmarameers, werden enorme Energien freigesetzt. Zuletzt wurden sie in diesem Grabenbruch 1999 nur 80 Kilometer von Istanbul entfernt gemessen. Am Ostende des Marmarameeres in der Nähe der Stadt Izmit forderte ein Erdbeben der Stärke 7,4 staatlichen Stellen zufolge über 18.000 Tote. Andere Quellen sprachen sogar von bis zu 25.000 Toten.
Die Sprengwirkung des Izmit-Bebens entsprach, wie die des aktuellen Bebens in der Südosttürkei, der Energieäquivalenz von 125 Hiroshima-Atombomben. Wer kann die Freisetzung solcher Energien überleben?

Wechselwirkungen zwischen Erdbeben

Es gibt Wechselwirkungen zwischen Beben. Inzwischen weiß die Wissenschaft, dass jedes Erdbeben in der Nachbarschaft auch einen Einfluss auf zukünftige Beben hat, indem es Spannungen tief in der Erdkruste umlagert. Eine Erkenntnis, die Forscher des Geoforschungszentrums (GFZ) in Potsdam besonders gut an der "Nordanatolischen Seitenverschiebung" ablesen können.
Die Spannungen durch das Izmit-Beben von 1999 haben sich tatsächlich verlagert. Es sieht so aus, dass die "seismische Lücke" südlich von Istanbul, die sich bis heute noch nicht durch ein Erdbeben geschlossen hat, durch das Izmit-Beben noch einmal belastet worden ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass das "große Beben" vor Istanbul innerhalb der nächsten 30 Jahre kommt, lag schon vor 15 Jahren bei 60 Prozent.

In der Vergangenheit rüttelten starke Erdbeben an der Grenze der anatolischen Platte. Wo genau fand welches Beben statt und welche Platte schiebt in welche Richtung? Die Grafik macht deutlich warum Istanbul und seine Bevölkerung in großer Gefahr schweben.

10.02.2023 | 03:59 min

Erdbebenwellen würden Istanbul in Sekunden erreichen

Schon heute erwirtschaftet die Region Istanbul mehr als 50 Prozent der gesamten türkischen Wirtschaftsleistung. Die Stadt, die Asien mit Europa verbindet, ist für die Türkei wie für Europa von zentraler Bedeutung.
Im Falle eines starken Erbebens benötigen die zerstörerischen Oberflächenwellen nur wenige Sekunden, um Istanbul zu erreichen. Das Zeitfenster, um Gasleitungen oder Brücken zu sperren, ist sehr klein. Denn auf das Erdbeben im Nachhinein zu reagieren, wird kaum möglich sein. Im Zweifel ist jede Familie auf sich selbst gestellt.
Geophysiker Marco Bohnhoff macht deutlich: "Für Istanbul ist spätestens jetzt klar: Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, sich bestmöglich auf das bevorstehende Starkbeben vorzubereiten - eine Mammutaufgabe!"

Mit Erdbeben-Containern im Garten sorgen Istanbuler vor

Istanbul hat einen Katastrophenschutzplan. Aber was sind die besten Pläne Wert, wenn die Zufahrtsstraßen für die Rettungsdienste durch zusammengestürzte Wohnhäuser blockiert werden? Es macht fassungslos, immer wieder mit einem Jahrzehntelangen Regierungsversagen konfrontiert zu werden, das Tausende Menschenleben kostet.
Statt auf staatliche Hilfen warten zu müssen, nehmen viele Bewohner Istanbuls die Vorsorge selbst in die Hand. Viele Familien haben im Garten einen Erdbeben-Container. Jeder Hausbewohner hat einen Schlüssel für den Container aus Stahlblech.

Wasser, Nahrung und Dokumente werden gelagert

Hier lagert alles, was man für eine Soforthilfe unbedingt braucht. Von Eiernudeln für die ersten Tage über Trinkwasser bis zu Kopien der wichtigsten Dokumente. Die Familien der Hausgemeinschaft haben vorgesorgt. Hausfrau Nigül hatte bei meinem letzten Besuch am Erdbeben-Container an alles gedacht. Selbst an das Sammeln von Haselnussschalen - die sollen besonders gutes Brennmaterial abgeben.
Mit fachlicher Beratung durch Marco Bohnhoff

Wilder Planet - Wie Naturgewalten einander beeinflussen. Erbeben und Vulkanausbrüche stehen in einem sehr viel engeren Zusammenhang als bisher gedacht – und selbst Stürme spielen offenbar mit im Beziehungsgeflecht der Naturgewalten.

06.09.2016 | 44:00 min

John A. Kantara ...

… ist Politologe, Wissenschaftsjournalist, Dokumentarfilmer und Professor für Journalismus. Der Jazz-Fan, Hobby-Koch und bekennende Streetfood-Enthusiast erkundet neben spannenden Reportagen für das ZDF, Arte oder 3sat auf seinen Drehreisen auch immer die dampfenden Köstlichkeiten abgelegener Seitenstraßen und Hinterhöfe. Sein Motto: Wissen geht durch den Magen.

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