: Missbrauch: Mehr als 250 mögliche Täter

18.04.2023 | 15:17 Uhr
Das Erzbistum Freiburg hat seinen Bericht zu sexuellem Missbrauch vorgelegt. Mehr als 250 Priester sind demnach mögliche Täter - auch Alt-Erzbischof Zollitsch wird schwer belastet.
Der Freiburger Bericht über sexuellen Missbrauch durch Geistliche hat Abgründe des Machtsystems Kirche offengelegt und gnadenlos mit der Ära des damaligen Erzbischofs Robert Zollitsch (84) abgerechnet. Dessen Amtszeit bis 2013 war durch "konkretes Vertuschungsverhalten" geprägt, wie es in dem in Freiburg vorgelegten Report heißt.
Die Autoren der unabhängigen Studie bewerteten am Dienstag auch das Verhalten von Zollitsch' verstorbenen Amtsvorgänger Oskar Saier äußerst kritisch. In der Amtszeit des amtierenden Erzbischofs Stephan Burger seien hingegen keine Verfehlungen aufgefallen.

Missbrauchsbericht: Vorwürfe gegen Alt-Erzbischof Zollitsch

"Das sticht heraus", sagte der Freiburger Theologe und Vorsitzende der Aufarbeitungskommission, Magnus Striet, insbesondere mit Blick auf Vorwürfe gegen Zollitsch. Der hohe Geistliche war von Februar 2008 bis März 2014 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und damit Gesicht und Stimme der katholischen Kirche gewesen.
Als Erzbischof habe Zollitsch alles unterlassen, was kirchenrechtlich vorgeschrieben gewesen wäre, sagte einer der Autoren der Studie, Eugen Endress. Auf eigentlich verpflichtende Meldungen von Missbrauchsfällen nach Rom habe Zollitsch komplett verzichtet.
Nichts ist passiert, alles lief so wie immer.
Eugen Endress, Autor der Studie
Zollitsch hatte bereits im Oktober in einem Video schwerwiegende Fehler und persönliche Schuld eingeräumt. "Er lag mit dieser Selbsteinschätzung richtig", kommentierte dies Endress mit einem Anflug von Ironie.

Die Erzdiözese München und Freising hat jetzt erklärt, dass sie sich nicht darauf berufen will, dass die Taten verjährt sind.

31.01.2023 | 02:28 min

Erzbistum Freiburg gehört zu den größten der 27 Diözesen in Deutschland

Zollitsch führte das Erzbistum Freiburg von 2003 bis 2013. Von 1983 an war er zwei Jahrzehnte lang Personalreferent im Erzbischöflichen Ordinariat gewesen. Mit rund 1,8 Millionen Katholiken gehört das Erzbistum zu den größten der 27 Diözesen in Deutschland.
Schon während seiner Zeit als Personalreferent des damaligen Erzbischofs Saier habe Zollitsch entscheidend dazu beigetragen, Verdachtsfälle von Missbrauch durch Geistliche zu vertuschen, lautete ein Vorwurf. Saier habe gegenüber dem Missbrauchsthema eine "bewusste Ignoranz an den Tag gelegt", die Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft verweigert und den Umgang mit dieser Thematik faktisch Zollitsch überlassen.
Dieser habe Missbrauchsfälle vertuscht und auch darauf geachtet, dass Akten möglichst sicher aufbewahrt und möglichst auch für Anklagebehörden nicht zugänglich gemacht wurden, berichtete Endress. Saier amtierte von 1978 bis 2002.

Chronik der Missbrauchs-Aufarbeitung

Nach langem Schweigen begann in der katholischen Kirche 2010 die Aufarbeitung von Missbrauch und dessen Verschleierung. Am heutigen Dienstag stellt das Erzbistum Freiburg eine umfassende Studie vor. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert wichtige Etappen der Aufarbeitung:

2010

Januar 2010: Der Jesuit Klaus Mertes macht öffentlich, dass es an seiner Schule in Berlin sexualisierte Gewalt und Missbrauch gab - und die Fälle lange verschleiert wurden. Der Skandal löst eine Welle von Enthüllungen in der Kirche und in anderen Institutionen aus.

Februar 2010: Die katholischen Bischöfe bitten bei ihrer Vollversammlung in Freiburg um Entschuldigung. Ein Sonderbeauftragter wird benannt, eine Hotline für Betroffene eingerichtet.

März 2010: Die Kirche sitzt mit am von der Bundesregierung eingerichteten Runden Tisch.

August 2010: Die Bischöfe verschärfen ihre "Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch". Glaubhaft verdächtigte Geistliche müssen umgehend vom Dienst suspendiert werden.

2010: In Freiburg beruft die Erzdiözese die erste unabhängige Missbrauchsbeauftragte.

2013

2013: In Freiburg gibt es Kritik am damaligen Erzbischof Robert Zollitsch. Er soll in einem der schlimmsten Missbrauchsfälle der Diözese, im Schwarzwaldort Oberharmersbach, vertuscht haben.

2014

März 2014: Die Bischöfe beauftragen einen Forschungsverbund um den Mannheimer Psychiater Harald Dreßing mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung.

2018

September 2018: Vorstellung einer bundesweiten Untersuchung, der MHG-Studie. Demnach gab es von 1946 bis 2014 rund 3.700 Betroffene sexueller Übergriffe. Beschuldigt werden 1.670 Priester und Ordensleute, davon sind 190 aus dem Erzbistum Freiburg. Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Die Bischöfe verpflichten sich, Betroffene und unabhängige Fachleute stärker in die Aufarbeitung einzubeziehen.

November 2018: In Freiburg beruft Erzbischof Stephan Burger eine Aufarbeitungskommission.

2019

Anfang 2019: In Freiburg Arbeitsbeginn für die Missbrauchsstudie.

Dezember 2019: Die Bischofskonferenz veröffentlicht erneut verschärfte Leitlinien zum Umgang mit Missbrauchsfällen.

2020

März 2020: Die Bischöfe beschließen ein neues Konzept zur Wiedergutmachung. Opfer können künftig mit deutlich höheren Schmerzensgeldzahlungen als bisher rechnen. Die Kirche orientiert sich an der zivilrechtlichen Schmerzensgeld-Tabelle und entsprechenden Gerichtsurteilen. Dies bedeutet für sexuellen Missbrauch Summen zwischen 5.000 und 50.000 Euro pro Fall.

Juni 2020: Die Bischöfe und der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes Wilhelm Rörig, unterzeichnen eine Vereinbarung zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch. Demnach soll die Aufarbeitung transparent und nach einheitlichen Kriterien erfolgen. Auch sollen unabhängige Experten an dem Prozess teilnehmen.

August 2020: Die katholischen Ordensgemeinschaften stellen die Ergebnisse einer Mitgliederbefragung: Es gibt Missbrauchsvorwürfe gegen mindestens 654 Ordensleute und wenigstens 1.412 betroffene Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene.

Dezember 2020: Gründung der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistung (UKA). Sieben Fachleute aus den Bereichen Recht, Medizin und Psychologie sollen unabhängig über die Höhe der Zahlungen an Betroffene entscheiden.

2021

Juli 2021: In Freiburg Gründung des Betroffenenbeirats aus zwei Frauen und zwei Männern.

Oktober 2021: In Freiburg Gründung der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Erzdiözese unter Leitung des Theologen Magnus Striet. Als bundesweit einziges Bistum unterstützt Freiburg sehr schwer Betroffene mit einer Art monatlichen Grundversorgung in Höhe von 200 bis 800 Euro.

2022

Februar 2022: Laut UKA-Jahresbericht gingen 2021 rund 9,4 Millionen Euro an Betroffene.

Oktober 2022: In einem Video bekennt sich der emeritierte Freiburger Erzbischof Zollitsch zu Fehlern im Umgang mit Missbrauch. Er bittet Betroffene um Verzeihung.

2023

März 2023: Mit dem Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode tritt erstmals ein katholischer Bischof im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal zurück.

18. April 2023: Veröffentlichung des ersten umfassenden Berichts zu Missbrauch im Erzbistum Freiburg.

Quelle: KNA

Kirche war eigenes Image offenbar wichtiger

Des Missbrauchs beschuldigte Priester seien versetzt worden, ohne dass Begründungen für diese Versetzungen irgendwo auftauchten oder gar aktenkundig wurden. Endress sagte:
Das war dann halt einfach so.
Eugen Endress, Autor der Studie
Dokumente, Protokolle, Personalakten seien vernichtet und damit der Weg von Opfern, doch noch zu ihrem Recht zu kommen, erschwert worden, teilte der Betroffenenbeirat in einer Stellungnahme mit. Der Bericht dokumentiere, dass missbrauchte Kinder und verletzte Kinderseelen über Jahrzehnte gleichgültig gewesen seien.
"Wichtiger waren der Kirche ihr Image und damit der Schutz von Menschen, die grausamste Taten an Kindern und Jugendlichen begangen haben." Das unabhängige Gremium soll Betroffene unterstützen. Es ist nach eigenen Angaben unzufrieden mit den sogenannten Anerkennungsleistungen, denn die Beträge seien nicht hoch genug.

Burger räumt Versäumnisse ein und bittet um Verzeihung

Burger räumte bei der Pressekonferenz auch eigene Versäumnisse ein. "Dass ich Fehler begangen habe, steht für mich außer Frage", sagte der 60-Jährige. Er bitte die Betroffenen um Verzeihung." Burger war von September 2007 bis Juni 2014 Offizial - also Kirchengerichtsleiter - der Erzdiözese Freiburg. Über mögliche kirchenrechtliche Konsequenzen für Zollitsch müsse nun der Heilige Stuhl im Rom entscheiden. "Die notwendigen Maßnahmen dazu sind eingeleitet", sagte Burger. Es gehe dabei um ein Verfahren, um Verdachtsfälle von Vertuschung zu melden.
Kommissionsleiter Striet sagte auf die Frage zum rechtlichen Status des knapp 600 Seiten starken Abschlussberichts:
Das müssen die Gerichte entscheiden.
Kommissionsleiter Magnus Striet
Nach Auskunft des Verwaltungschefs der Erzdiözese, Christoph Neubrand, sind bisher keine Klagen bekannt. Im Erzbistum wird von über 540 Betroffenen ausgegangen, sagte Striet. Es gebe zudem über 250 beschuldigte Kleriker.
Quelle: dpa

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