: Zehn Monate Krieg: Putins Armee schwächelt

von Christian Mölling, András Rácz
30.12.2022 | 19:03 Uhr
Die russische Armee hat sich als viel schwächer erwiesen als vor Februar 2022 angenommen. Man darf die Anpassungsfähigkeit von Putins Armee aber nicht unterschätzen.
Nach zehn Monaten Krieg ist einiges an russischer Militärausrüstung zerstört worden.Quelle: epa
Russlands Krieg in der Ukraine dauert nun schon mehr als zehn Monate an. Auch wenn der Konflikt selbst schon 2014 begann, hat die jetzige Eskalation doch eine Reihe wichtiger Lehren für die Kriegsführung gebracht.

Russlands Armee - eine Überraschung für die eigene Führung

Die erste und wahrscheinlich wichtigste betrifft die strukturellen Schwächen von Russlands konventionellen Streitkräften. Dies war eine große Überraschung nicht nur für den Westen, sondern höchstwahrscheinlich auch für die russische Führung selbst.
Dem Kreml war offenbar nicht bewusst, wie stark Russlands konventionelle Streitkräfte - abgesehen von einigen wenigen Eliteeinheiten - dezimiert sind. Hätte Moskau dies gewusst, hätte Putin höchstwahrscheinlich nicht am 24. Februar seinen übermäßig ehrgeizigen "Blitzkrieg gegen die Ukraine" gestartet.

Mangelnde Planungsfähigkeiten

Eine wesentliche Schwachstelle, die deutlich wurde, sind die strategischen und operativen Planungsfähigkeiten Russlands. Als der Angriff auf Kiew an der Fähigkeit und Bereitschaft der Ukraine, sich selbst zu verteidigen, scheiterte, dauerte es Monate, bis die russische Armee ihre Planung und ihr operatives Verhalten an die neuen Gegebenheiten angepasst hatte.
Nach wie vor haben politische Erwägungen Vorrang vor strategischer und operativer Weisheit, wie die äußerst kostspieligen und weitgehend vergeblichen Frontalangriffe Russlands auf die stark befestigten ukrainischen Stellungen im Donbass zeigen.

Dr. Christian Mölling ...

Quelle: DGAP
... ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und leitet dort das Programm Sicherheit, Verteidigung und Rüstung. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.

Dr. András Rácz ...

Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.

Unzureichende Logistik von Putins Truppen

Es hat sich gezeigt, dass die Fähigkeit der russischen Armee, die Logistik für einen groß angelegten Krieg mit kombinierten Waffen im Ausland bereitzustellen, eher begrenzt ist. Trotz der Reformen der letzten zwei Jahrzehnte ist die russische Logistik immer noch stark von den Eisenbahnlinien abhängig, und es gibt einfach nicht genug Lastwagen, um diese zu ersetzen.

Unzureichende Quantität und Qualität von Personal

Die personellen Ressourcen der russischen Armee haben sich ebenfalls als weniger weitreichend erwiesen als erwartet. Bislang haben die russischen Streitkräfte mindestens 100.000 getötete, schwer verwundete oder gefangen genommene Soldaten verloren, darunter Tausende von Elitetruppen sowie erfahrene Offiziere und Unteroffiziere. Die Personalreserven gehen so schnell zur Neige, dass Russland im September eine Teilmobilisierung anordnen musste, um die Verluste zu ersetzen.
Eine weitere Mobilisierungswelle wird wahrscheinlich Anfang 2023 stattfinden. Zwangsweise mobilisierte Männer können jedoch die Berufs- und Vertragssoldaten in Bezug auf Motivation, Ausbildung, Erfahrung, Ausrüstung und auch Führungsfähigkeit kaum ersetzen. Infolgedessen hält Russland zwar immer noch mindestens 150-200.000 Soldaten in der Ukraine, aber die Qualität dieser Truppen ist viel geringer als die der ursprünglichen Invasionstruppen.

Überforderte industrielle Kapazitäten

Es hat sich gezeigt, dass die russische Rüstungsindustrie kaum in der Lage ist, einen solchen Großkrieg mit den erforderlichen High-Tech-Produkten zu versorgen, da die russische Rüstungsindustrie in hohem Maße von westlichen Teilen und Komponenten abhängig ist. Unter dem Druck der Sanktionen und dem Rückzug mehrerer Hundert westlicher Unternehmen vom russischen Markt fällt es der russischen Armee immer schwerer, die verlorenen oder beschädigten modernen Waffensysteme zu ersetzen.
Da die russischen Streitkräfte große Bestände aus der ehemaligen Sowjetunion abbauen, vollzieht sich bei ihnen ein regressiver militärtechnologischer Wandel: Moderne Systeme werden zunehmend durch ältere, veraltete ersetzt.

Anpassungsfähigkeit der russischen Militärmaschinerie

Dennoch darf man die Bereitschaft und Fähigkeit der russischen Armee nicht unterschätzen, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen und ihre Kampfweise so weit anzupassen, wie es diese strukturellen Schwächen zulassen.
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