: Wenn die Heimat zur Hölle wird

von Nina Niebergall
25.09.2023 | 23:34 Uhr
Zehntausende Armenier fliehen vor der aserbaidschanischen Armee und den menschenunwürdigen Zuständen in Bergkarabach. Sie gehen vermutlich für immer.

Nach der Eroberung des Gebietes Bergkarabach durch Aserbaidschan wächst die Zahl der nach Armenien flüchtenden Menschen. Es droht ein Exodus der Bevölkerung Bergkarabachs.

25.09.2023 | 02:30 min

Das Wichtigste in Kürze

  • Am 19. September hat Aserbaidschan Bergkarabach angegriffen und einen Waffenstillstand zu seinen Bedingungen durchgesetzt.
  • Beobachter warnen vor einem Genozid an der armenischen Bevölkerung der Enklave.
  • Nach Angaben der armenischen Regierung sind inzwischen 13.350 Flüchtlinge aus Bergkarabach im Land angekommen.
  • Die Regierung stelle allen ohne Obdach eine Unterkunft zur Verfügung, heißt es aus Eriwan.
(Quelle: AFP, Reuters, KNA)
Und plötzlich muss ein ganzes Leben in ein Auto passen. Wladik und seine Familie wollten so schnell wie möglich Bergkarabach verlassen. Sie sind zu elft. Aber sie hatten nur einen Pkw und wenig Benzin. Sie mussten alle Platz finden, die Kinder im Kofferraum. Viel Platz für ihre Habseligkeiten war da nicht mehr. Trotzdem sind sie froh, dass sie es nach Goris, Armenien geschafft haben.
Wir haben nur das hier mitgebracht. Wir haben alles zurückgelassen, ein dreistöckiges Haus mit Schweinen, Hühnern, einfach alles.
Wladik

Viele haben fast nichts dabei

Szenen wir diese gab es hundertfach. Seit Sonntag dürfen die Menschen Bergkarabach verlassen, seitdem lässt Aserbaidschan sie raus. Es musste schnell gehen. Manche haben nicht mehr dabei als zwei Plastiktüten.
Wir haben unser Zuhause verloren, den Ort, an dem wir gelebt haben, unser Bergkarabach. Warum nur demütigen sie uns so, warum greift die Welt nicht ein?
Laura
Ihre Trauer mischt sich mit Wut. Viele hier fühlen sich vertrieben von Aserbaidschan, dem Erzfeind, der vergangene Woche ihre Heimat angegriffen hat. Und jetzt dort die Herrschaft übernommen hat.

Die humanitäre Lage in der umkämpften Region Bergkarabach spitzt sich weiter zu. ZDF-Korrespondentin Nina Niebergall beobachtet die Situation Geflüchteter im Grenzgebiet.

26.09.2023 | 01:03 min

Angst vor den aserbaidschanischen Herrschern

Sie fürchteten, dass Aserbaidschan ihnen jegliche Rechte rauben würde. Auch, dass die aserbaidschanische Armee ihnen etwas antun könnte. In den vergangenen Kriegen gab es Verbrechen auf beiden Seiten.
Es ist einfach unmöglich. Wir würden niemals zurechtkommen mit ihnen. Wir können uns das überhaupt nicht vorstellen.
Wladik
Mehr als 6.000 Menschen sollen aus Bergkarabach geflohen sein. Bleiben ist keine Option, so empfinden es viele von ihnen.
Die Region Bergkarabach, Armenien, und Aserbaidschan.Quelle: ZDF
Es gibt nur wenige Informationen aus Bergkarabach, internationale Medien lässt Aserbaidschan nicht in die Region, die UN ist nicht vor Ort, und auch sonst keine internationalen Beobachter. Aber, das, was die armenischen Journalist*innen in den vergangenen Tagen auf "X", ehemals Twitter, geteilt haben, zeichnet das Bild einer humanitären Katastrophe.

Katastrophale Zustände in Bergkarabach

Einer von ihnen ist Marut Vanyan. Seit dem aserbaidschanischen Angriff am 19. September postet er Videos von seiner Heimatstadt Stepanakert. Kinder und ihre Großmutter, die in einer Kirche Schutz suchen. Kinder, die Feuerholz sammeln, um über dem offenen Feuer zu kochen. Oder den Müll zu verbrennen. Sowas wie eine Müllabfuhr gibt es nicht mehr.
Kein Benzin, keine Elektrizität, wenig Netz - die einzige Verbindung zur Außenwelt. Um ihre Handys zu laden, sind die Menschen auf das Rote Kreuz angewiesen. In kleinen Grüppchen sitzen sie auf einer Straße in Stepanakert, nutzen das bisschen Strom, was ihnen zur Verfügung gestellt wird.

Aserbaidschan hatte ihnen zugesagt, ihre Rechte zu achten. Dennoch sind inzwischen viele Armenier ins Nachbarland geflüchtet. Es wird mit bis zu 120.000 Flüchtlingen gerechnet.

25.09.2023 | 00:18 min

Flüchtlinge in Stepanakert

"Stepanakert ist ein einziges Flüchtlingscamp", schreibt Vanyan. Die Hauptstadt von Bergkarabach ist noch nicht unter aserbaidschanischer Kontrolle. Sie steht offiziell unter dem Schutz sogenannter russischer Friedenstruppen. Auch wenn vieler Armenier*innen bezweifeln, dass die irgendwas unternehmen würden.

"Der Kreml hat heute Armeniens Präsident Paschinjan fallengelassen", so ZDF-Korrespondent Armin Coerper. Die Türkei und Aserbaidschan scheinen dem Kreml nützlicher.

25.09.2023 | 02:40 min
Die umliegenden Dörfer hat die aserbaidschanische Armee offenbar eingenommen. Die vertriebenen Einwohner flohen nach Stepanakert. Wo sie nun von denjenigen versorgt werden, die selbst kaum etwas haben.
Aus Stepanakert raus bildeten sich am Montag lange Schlangen. Armenien rechnet damit, dass in den nächsten Tagen weitere Tausende, womöglich Zehntausende Flüchtlinge ankommen werden.
Nina Niebergall berichtet als ZDF-Korrespondentin über Russland, Zentralasien und die Kaukasusregion.

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