Interview

: Warum sich Wähler wie Fußballfans verhalten

07.01.2024 | 20:23 Uhr
Vor einem Jahr haben Bolsonaro-Anhänger Parlament und Präsidentenpalast gestürmt. Ein Politikberater über Polarisierung und warum sich Brasiliens Wähler wie Fußballfans verhalten.
Anhänger des abgewählten Präsidenten Bolsonaro stürmen am 8. Januar 2023 den Kongress in Brasilia.Quelle: AP
ZDFheute: Wie blickt die brasilianische Gesellschaft auf die Angriffe vom 8. Januar 2023?
Thomas Traumann: Die große Mehrheit der Brasilianer verurteilt, was am 8. Januar geschehen ist - selbst unter den Wählern Bolsonaros. Das ist interessant, denn wenn wir uns die Reaktionen in den USA nach dem Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021 anschauen, sehen wir, dass die Ablehnung mit der Zeit nachgelassen hat, dass das Geschehene relativiert wurde. In Brasilien passiert das nicht und das ist eine gute Nachricht. Das dürfte daran liegen, dass die Täter sehr schnell festgenommen und verurteilt wurden.

Sturm auf demokratische Institutionen und die Folgen

Was geschah am 8. Januar 2023 in Brasilia?

Am 8. Januar 2023 stürmten Anhänger des abgewählten Präsidenten Jair Messias Bolsonaro den Kongress, das Oberste Gericht und den Präsidentenpalast in Brasília und zerstörten Teile der Gebäude. Sie forderten einen Militärputsch gegen die frisch vereidigte Regierung von Lula da Silva und die Rückkehr Bolsonaros an die Macht. Der hatte während des Wahlkampfes das Wahlverfahren angegriffen und behauptet, es gäbe Betrug. Der Sturm auf die Institutionen in Brasilia wurde von Sicherheitskräften nach einigen Stunden niedergeschlagen, Tausende verhaftet. 

Welche Folgen hatte die Erstürmung der Institutionen?

Noch am Tag der Angriffe wurden Tausende Angreifer verhaftet, ein Gouverneur aus dem Amt entfernt und Haftbefehl gegen den zuständigen Sicherheitssekretär erlassen. Inzwischen wurden 1.400 Personen angeklagt und 30 bereits zu Haftstrafen von bis zu 16,5 Jahren verurteilt. Es laufen auch Verfahren gegen Unternehmer, die den Transport und Unterhalt von Demonstranten finanziert haben sollen.

Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss hat zur Verstrickung hoher Beamter und Politiker ermittelt und fordert im Abschlussbericht, Bolsonaro als "Urheber der Attacken" anzuklagen. Das ist noch nicht geschehen, aber das Oberste Wahlgericht hat Bolsonaro im Zuge einer anderen Ermittlung wegen der Verbreitung von Verschwörungstheorien über das Wahlsystem für acht Jahre das Recht entzogen, für politische Ämter zu kandidieren.

ZDFheute: Trotzdem ist die Unterstützung für Bolsonaro weiter groß, obwohl er als "geistiger Urheber" des Putschversuchs gilt.
Traumann: Die Anhänger Bolsonaros glauben nicht, dass er persönlich etwas mit den Angriffen zu tun hatte. Aktuelle Studien zeigen, dass ein Jahr nach den Wahlen das Ergebnis bei einer Wahl zwischen Lula und Bolsonaro ganz genauso ausfallen würde wie 2022. In der Zwischenzeit hat Bolsonaro seine politischen Rechte verloren, es gab einen Skandal um Staatsgeschenke (die Bolsonaro mutmaßlich für sich behalten hat), es gab die Angriffe vom 8. Januar. Und dennoch würde fast die Hälfte der Brasilianer Bolsonaro erneut ihre Stimme geben.

Thomas Traumann...

Quelle: privat
... ist ein brasilianischer Politikberater, Journalist und Autor zahlreicher Bücher. 2012 bis 2015 war er Sprecher bzw. Kommunikationsminister der Regierung Dilma Rousseff. Zuletzt hat Traumann ein Buch über die politische Polarisierung in Brasilien veröffentlicht.
ZDFheute: Warum ist das so?
Traumann: Weil die politischen Affinitäten zum Teil der Identität der Menschen geworden sind. Wähler verhalten sich wie Fußballfans: Dein Team kann verlieren, trotzdem wirst du es weiter unterstützen.
Wenn du dich als bedingungsloser Fan oder Gegner einer Partei verstehst, wird diese Identifizierung anhalten, egal was passiert.
ZDFheute: Wie kann diese Spaltung überwunden werden?
Traumann: Die politische Polarisierung hat in Brasilien ein derart hohes Level erreicht, dass sie nicht mehr allein in der Hauptstadt Brasilia von der politischen Führung gelöst werden kann.
Die Polarisierung prägt heute Schulen, Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern, Lehrern und Eltern.
Sie zeigt sich in Boykottkampagnen gegen Produkte, wenn die Werbefigur für Lula oder für Bolsonaro steht, in Repressionen gegenüber Mitarbeitern von Unternehmen, weil die für diesen oder jenen Kandidaten gestimmt haben. Sie betrifft die ganze Gesellschaft.
Nicht ein Gesetz oder ein gemeinsames Foto der Vertreter aus Politik und Justiz lösen das Problem. Die Lösung muss in den Kirchen passieren, in den Schulen, in den Supermärkten - im Alltag der Menschen. Es braucht wieder mehr Toleranz. Dafür gibt es nicht die eine magische Lösung.
ZDFheute: Zum Jahrestag hat die Regierung zu einem Gedenkakt eingeladen, aber Gouverneure der Opposition wollen nicht teilnehmen ...
Traumann: Das ist ein großer Fehler der Vertreter der Opposition. Was am 8. Januar 2023 passiert ist, war nicht nur ein Angriff auf die neue Regierung Lulas oder auf eine Partei.
Es war ein Angriff auf die brasilianische Demokratie.
Wenn die Opposition nun zulässt, dass Präsident Lula am Montag als einziger Bürge der Demokratie auftritt, begeht sie einen Fehler.
ZDFheute: Gibt es eine Lektion, die andere Länder von Brasilien im Umgang mit einem Angriff auf demokratische Institutionen lernen können?
Traumann: Ich denke nicht, dass Brasilien insgesamt besser dasteht als andere Länder. Aber es gab einen wichtigen Faktor: die Schnelligkeit, mit der die Wahljustiz und die Justiz reagiert und die Verantwortlichen verurteilt haben. Zwar wurden bisher die Personen, die die Angriffe finanziert und damit ermöglicht haben, noch nicht verurteilt.
Es gab harte Strafen gegen Menschen, die direkt beteiligt waren. Und das setzt ein Zeichen.
Die Frage ist ja: Wie verhindert man, dass sich so was wie der 8. Januar wiederholt? Der Fall der USA zeigt: Wenn man die Täter nicht verurteilt, sie nur geringe Strafen bekommen und es eine genauso polarisierte Wahl gibt, bei der der Kandidat Trump möglicherweise verliert, dann könnte all das wieder passieren. Um zu verhindern, dass sich so ein Angriff auf die Demokratie wiederholt, muss die Gesellschaft klare Grenzen setzen.
Das Gespräch führte Anne-Kirstin Berger, ZDF-Studio Rio de Janeiro.

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