: Brückenangriffe: Russland in der Zwickmühle

von Christian Mölling, András Rácz
10.08.2023 | 06:18 Uhr
Die mittlerweile zwei Brückenköpfe der Ukraine machen Schlagzeilen. Doch sie bedrohen nur die russischen Verteidigungslinien. Sie stellen keine neue Front dar.
Die beschädigte Antoniwkabrücke im ukrainischen Cherson.Quelle: dpa
Am 8. August wurde bekannt, dass die ukrainischen Streitkräfte einen Brückenkopf am linken Ufer des Flusses Dnipro bei der Siedlung Kozachi Laheri errichtet haben. Um diese Information richtig einschätzen zu können, muss man jedoch eine Reihe von Details in Betracht ziehen.

Was ein Brückenkopf ist

Ein Brückenkopf im militärischen Sprachgebrauch ist eine begrenzte militärische Stellung auf feindlich besetztem Gebiet jenseits eines Gewässers. Also immer dann, wenn ein Fluss, ein See oder auch ein Meer die Grenze zwischen zwei militärischen Gegnern ausmacht, werden Brückenköpfe wichtig. Denn: Will eine Konfliktpartei in den gegnerischen Bereich eindringen, überquert sie zunächst das Gewässer und versucht dann, sich auf dem feindlichen Territorium in einem begrenzten Bereich festzusetzen. Diesen Bereich baut sie dann aus und sichert ihn: Der Brückenkopf ist entstanden.

Anschließend versucht sie über das Gewässer eine Versorgungs-Verbindung zu ihrem eigenen Territorium herzustellen, um darüber dann Personal und Material für weitere militärische Aktionen nachzuführen. Umgekehrt können Brückenköpfe auch dazu dienen, sich geordnet aus feindlichem Gebiet zurückzuziehen. Dann sind sie der gesicherte Ausgangspunkt für die Überquerung des Gewässers von feindlichem Gebiet zum eignen Territorium. Von dieser Funktion leitet sich auch der Begriff Brückenkopf ab: Ein gesicherter und gegebenenfalls befestigter Ort, von dem bzw. zu dem der Übergang über das Gewässer möglich ist.

Der militärische Begriff "Brückenkopf" geht zurück auf Wehr- bzw. Befestigungsanlagen zur Sicherung von Brückenbauwerken über Flüsse.

(Quelle: Axel Zimmermann, ZDFheute)

Ukraine operiert seit langem im Flussdelta

Die ukrainischen Streitkräfte führen seit langem Operationen auf den Inseln des Dnipro-Deltas sowie am linken Ufer durch. Mit unterschiedlicher Intensität, aber in kleinem Umfang finden bereits seit der Befreiung Chersons regelmäßig Spezialoperationen wie Razzien, Aufklärungsangriffe und andere Aktionen statt. Die Zerstörung des Nowa-Kachowka-Damms und die anschließende Flutkatastrophe haben diese Operationen unterbrochen, aber nicht beendet.
Nach dem Bruch des Staudamms bei Cherson machen sich die Kriegsparteien gegenseitig verantwortlich:

Scholz sieht in dem zerstörten Staudamm eine "neue Dimension des Krieges".

06.06.2023 | 11:55 min

Brückenkopf an der Antonowsky-Brücke

Zudem gibt es bereits seit etwa 1,5 bis zwei Monaten eine mehr oder weniger ständige ukrainische Präsenz am linken Ufer bei Cherson, an den Ruinen der zerstörten Antonowsky-Brücke. Die Antonowsky-Brücke war eine große, massive Straßenbrücke, bevor die sich zurückziehenden russischen Truppen im November 2022 Teile von ihr in den Fluss sprengten. Die Teile auf der linken Uferseite, einschließlich der Straße selbst und der Erdrampen, blieben jedoch weitgehend intakt, ebenso wie Teile der Traversen.

Dr. Christian Mölling ...

Quelle: DGAP
... ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und leitet dort das Programm Sicherheit, Verteidigung und Rüstung. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.

Dr. András Rácz ...

Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.
Aufgrund der schieren Größe der Brücke bieten diese Überreste eine hervorragende Deckung für einige ukrainische Truppen, die den Fluss überquert und hier, buchstäblich unter den Trümmern der Brücke, einen kleinen Brückenkopf errichtet haben. Die russische Artillerie und Luftwaffe haben diese kleinen ukrainischen Truppen dort regelmäßig angegriffen. Die ukrainische Artillerie und Luftabwehr bietet jedoch eine starke Deckung vom rechten Ufer aus, so dass es Russland nicht gelingt, einen Bodenangriff gegen diesen Brückenkopf zu starten.

Logistische Entfaltungsgrenzen

Es gibt jedoch erhebliche logistische Beschränkungen für die Ausdehnung dieser beiden Brückenköpfe. Die Ukraine ist in der Lage, diese kleinen Kontingente zu versorgen, indem sie kleine, schnelle Motorboote einsetzt, um den Fluss zu überqueren und die notwendige Munition und den Nachschub zu liefern. Die Entwicklung dieser Brückenköpfe zu Ausgangspunkten größerer Offensivaktionen würde jedoch eine grundlegend andere Logistik erfordern. Bislang hat die Ukraine weder schwere Waffen noch gepanzerte Fahrzeuge auf das linke Ufer verlegt. Auch die Artillerie wurde nicht hinüber verlegt.
Die Ausweitung des Brückenkopfes würde jedoch die Verschiffung von Panzern über den Dnipro sowie immense Mengen an anderen Versorgungsgütern wie Munition, Treibstoff usw. erfordern. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass dies ohne die Errichtung einer mehr oder weniger festen Behelfsbrücke über den Fluss zu bewerkstelligen wäre. Allerdings befindet sich das Gebiet immer noch in Reichweite der russischen Artillerie und der aus der Luft abgefeuerten Gleitbomben, so dass eine Pontonbrücke äußerst verwundbar wäre. Solange es der Ukraine nicht gelingt, die russische Artillerie und Luftwaffe daran zu hindern, den Antonowsky-Brückenkopf anzugreifen und eine Pontonbrücke zu errichten, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass entweder dieser oder der Kozachi-Laheri-Brückenkopf erweitert werden könnte.
Hat die Gegenoffensive der Ukraine eine Chance gegen russische Truppen?

Die ukrainische Gegenoffensive läuft bereits seit mehr als zwei Monaten. Wir sprechen mit Militärexperte Marcus Keupp darüber, wie es derzeit um den Fortschritt steht.

09.08.2023 | 38:40 min

Steigendes Risiko für die russischen Befestigungsanlagen

Die eigentliche Bedeutung der Antonovsky- und Kozachi-Laheri-Stellungen ergibt sich zum Teil aus der Ausrichtung der russischen Befestigungen in den besetzten Gebieten Cherson und Saporischschja. Die Verteidigungslinien sind entlang einer Ost-West-Achse ausgerichtet, da ihr Zweck darin besteht, einen von Norden kommenden Angriff aufzuhalten. Daher droht jede ukrainische Präsenz westlich dieser Befestigungsanlagen, diese zu flankieren. Außerdem versucht die ukrainische Militärführung mit der Landung in Kozachi Laheri offenbar, Russland dazu zu bringen, seine Streitkräfte zu teilen und einige Eliteeinheiten von der Frontlinie in Saporischschja hierher zu verlegen.
Die schlecht ausgebildeten, demotivierten russischen Soldaten, die die Dnipro-Frontlinie verteidigten, waren offenbar nicht in der Lage, den ukrainischen Spezialkräften standzuhalten, so dass Russland entweder die Luftlandeeinheiten oder andere, besser ausgebildete Einheiten hierher schicken muss. Aus dieser Perspektive sieht die neue ukrainische Landung in Kozachi Laheri wie ein Manöver aus, das darauf abzielt, die russischen Verteidigungsanlagen an der Saporischschja-Front zu schwächen.
Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:

Thema

Aktuelle Nachrichten zur Ukraine