: Ukraine will Russland vor Weltgericht ziehen
Friedenspalast - das ist der Sitz des Internationalen Gerichtshofs. Völkermord - das ist der Vorwurf, der im Raum steht. Russland hat ihn erhoben. Die Ukraine will ihn klären lassen.
Es sind 15 Richterinnen und Richter in schwarzen Roben und weißen Spitzenkragen, die entscheiden, ob das zulässig ist. Und es ist der Vertreter der russischen Föderation, Gennadi Kusmin, der zeigt, was Rhetorik ist.
Anhörung Tag 1: Ukraine gegen Russland
Kusmin legt das Dementi gegen die Ukraine aus: Wenn Kiew den Vorwurf des Völkermords zurückweise, könne das Gericht darüber nicht verhandeln. Das allein sei Grund genug, den Fall zurückzuweisen.
Denn wenn es keinen Völkermord gab, dann kann es keinen Verstoß gegen die Völkermord-Konvention geben.
Er liest ab, sein Englisch hat starken russischen Einschlag, aber Argumente wenden - das kann er.
Was ist die UN-Völkermord-Konvention?
Die "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" gehört zu den wichtigsten Vereinbarungen des humanitären Völkerrechts. Sie wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 9. Dezember 1948 einstimmig beschlossen und trat am 12. Januar 1951 in Kraft. Die Bundesrepublik unterzeichnete ihre Beitrittsurkunde im November 1954. Heute haben weltweit 133 Staaten die UN-Völkermord-Konvention ratifiziert.
Welche Ziele werden verfolgt?
Hauptziele der Konvention sind die frühzeitige Verhinderung und die strafrechtliche Ahndung von Völkermord. Sie definiert den so genannten Genozid - die systematische Auslöschung einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe - als Verbrechen, "das von der zivilisierten Welt verurteilt wird". Zentrale Textpassagen gehen auf den polnisch-jüdischen Juristen und Friedensforscher Raphael Lemkin zurück. Neben Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zählt der Völkermord zu den schwersten Delikten, die das UN-Recht kennt.
Wo wurde sie bislang angewandt?
Erst Mitte der 90er Jahre erlangte die Völkermord-Konvention praktische Bedeutung, als der UN-Sicherheitsrat zwei Ad-hoc-Tribunale zur Aufarbeitung schwerer Kriegsverbrechen einrichten ließ. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) befasst sich seit 1994 mit den in Serbien, Kroatien und Bosnien begangenen "ethnischen Säuberungen". Im September 1998 verurteilte der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) den ruandischen Ex-Premier und Hutu-Politiker Jean Kambanda wegen des Genozids an der Volksgruppe der Tutsi zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Quelle: dpa
So rechtfertigt Putin den Ukraine-Krieg
Seit 2014 kämpfen die Ukraine und Russland um den Donbass. Den Schutz der russischen Bevölkerung nannte Russlands Präsident Wladimir Putin selbst als Grund für seinen Krieg - den nur er so nicht nennt.
"Ich habe beschlossen, eine besondere Militäroperation durchzuführen", sagte Putin am 24. Februar 2023. "Ziel ist der Schutz derer, die acht Jahre unter den Misshandlungen und dem Völkermord durch das Kiewer Regime gelitten haben."
Den Einmarsch in die Ukraine begründete Russland auch mit einem angeblichen Völkermord an der russisch-sprachigen Bevölkerung im Osten des Landes.
18.09.2023 | 02:06 minUkraine will über Völkermord sprechen
Solche Zitate sind der Haken, an dem die Ukraine Russland vor das Gericht ziehen will. Motto: Völkermord? Okay - reden wir darüber. Russlands Gegenargument ist formaljuristisch. Der Vorwurf ist nicht in einer diplomatischen Note erhoben worden, zähle also nicht vor Gericht. Gennadi Kusmin meint:
Äußerungen über den Völkermord allein können nach dem Völkerrecht, einschließlich der Völkermordkonvention, nicht illegal sein.
Stephanie van der Berg beobachtet den Prozess. Die Journalistin berichtet für die Nachrichtenagentur Reuters regelmäßig aus Den Haag und betreibt einen eigenen Podcast. Sie muss zugeben: "Die Russen haben einige gute rechtliche Argumente gebracht. Die muss die Ukraine ausräumen." Sie betrachtet allein die juristische Argumentation. Daneben gebe es die "Russland Show".
- Wann spricht man von Völkermord?
Vertreter der russischen Föderation zeigt Powerpoint mit Hakenkreuzen
Kusmin schickt ein Powerpoint-Chart nach dem anderen über die Bildschirme im Saal. Zu sehen: Nazi-Symbole zur Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Und: Nazi-Symbole heute - unter anderem auf deutschen Leopard-2-Panzern.
Botschaft: Die Kiewer Regierung bestehe aus Neonazis, Russland kämpfe wieder gegen den Faschismus. Juristisch zähle das alles nichts, so Stephanie van der Berg.
Was die Ukraine von dem Prozess hätte
Die Ukraine nutzt internationale Gerichte, um ihre Rechtsposition zu sichern. Um immer wieder und in allen Aspekten feststellen zu lassen, dass Putins Krieg ungerechtfertigt war und ist. In Den Haag geht es nur um die Zulässigkeit des Verfahrens. Ein Prozess steht noch aus. Die Prozessbeobachterin van der Berg sagt:
Irgendwann könnte das den Weg ebnen für Reparationen Russlands an die Ukraine.
"Aber bis dahin gibt es viele Wenns und Abers", so van der Berg weiter.
Die EU-Justizbehörde Eurojust hat ein internationales Strafverfolgungszentrum eröffnet, um bereits während des Krieges Beweise zur Verfolgung russischer Aggression zu sammeln.
03.07.2023 | 02:29 minAnhörung Tag 2: Ukraine gegen Russland
Ein Aber setzt Anton Korynevych - eins gegen seinen russischen Kollegen. Es ist Dienstag, es ist dasselbe Setting, derselbe Ablauf. Es ist eine völlig andere Sicht der Dinge: "Russland will uns von der Landkarte wischen", sagt der Vertreter der Ukraine. Der Anwalt war früher Vertreter des ukrainischen Präsidenten auf der Krim. Jetzt steht er in Den Haag.
An Russlands Gewalttaten auf der Grundlage, Völkermord zu verhindern und zu bestrafen, war nichts rhetorisch.
Er muss hoffen, dass die Richterinnen und Richter unter Vorsitz einer US-Amerikanerin ihm in diesem Punkt folgen. Sehen sie durch öffentliche russische Äußerungen die Völkermord-Konvention betroffen, dann könnten sie das Verfahren zulassen.
"Russland hat die Völkermord-Konvention auf den Kopf gestellt", sagt der Ukrainer Korynevych. Die Welt-Gemeinschaft habe es zum Schutz geschaffen, Russland nutze es zur Zerstörung.
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Gunnar Krüger ist Korrespondent im ZDF-Studio Brüssel