Analyse

: Rote Linien für die Ukraine helfen Russland

von Christian Mölling und András Rácz
30.05.2024 | 10:07 Uhr
Die roten Linien des Westens gegenüber der Ukraine haben Russland nicht dazu gebracht, seine Kriegführung einzuschränken. Der Einsatz von Gleitbomben zeigt eher das Gegenteil.
Die Ukraine braucht die Erlaubnis, westliche Systeme wie das vom Typ Patriot auch im russischen Luftraum einzusetzen (Archivfoto).Quelle: dpa/Karl-Josef Hildenbrand
Der jüngste Angriff Russlands auf die Region Charkiw, der am 10. Mai begann, hat ein Problem deutlich gemacht, das zuvor viel weniger sichtbar war, obwohl es seit Beginn des Krieges in vollem Umfang fortbesteht.
Das Hauptproblem besteht darin, dass russische Kampfflugzeuge vom russischen Luftraum aus verschiedene Luft-Boden-Munition gegen die Stadt Charkiw und die Region abgefeuert haben. Durch Einsatzverbote des Westens (rote Linien) kann die moderne Flugabwehr diese Flugzeuge nicht abschießen. Westliche Waffen dürfen russisches Territorium und den Luftraum nicht erreichen.
Solange Russland "nur" mit Marschflugkörpern angriff, die oft aus Hunderten von Kilometern Entfernung abgeschossen wurden, war das Problem aufgrund der begrenzten Anzahl von Marschflugkörpern, über die Russland verfügt, weniger sichtbar.

Die Nato-Außenminister beraten in Prag über die weitere Unterstützung der Ukraine. Dabei dürfte es auch um den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Gebiet gehen.

30.05.2024 | 00:26 min

Gleitbomben: simples Prinzip

Seit Moskau jedoch auch Gleitbomben einsetzt, hat sich die Zahl der Luft-Boden-Angriffe aus dem russischen Luftraum vervielfacht. Bei den kürzlich von Russland eingesetzten Gleitbomben handelt es sich um extrem billige, rudimentäre Systeme, die nicht mit den traditionelleren, laser- oder satellitengesteuerten Bomben zu verwechseln sind, die von der Sowjetunion und später von Russland entwickelt wurden.
Die in der Ukraine eingesetzten Gleitbomben bestehen im Wesentlichen aus einer herkömmlichen Freifallbombe und einem Umbausatz, an dem die Bombe befestigt wird. Wenn das Flugzeug die Bombe abwirft, klappt der Umbausatz zwei Flügel aus, so dass die Waffe gleiten kann. Gleitbomben sind auch mit einem rudimentären Lenksystem ausgestattet.

Großes Arsenal in Russland

Das Problem ist, dass Russland über einen praktisch unbegrenzten Vorrat an Freifallbomben verfügt, die billig in diese Gleitbomben umgewandelt werden können.
Neben ihrer schieren Anzahl ist auch ihre Zerstörungskraft ein Problem. Selbst die kleinste Gleitbombe, die auf der alten sowjetischen FAB-500-Bombe basiert, enthält mehr als 200 Kilogramm Sprengstoff - eine russische 152-mm-Standardartilleriegranate ist dagegen mit weniger als sieben Kilogramm geladen.

Ob Macron und Scholz in Meseberg oder Selenkyj bei seinem Besuch in Belgien: Die Frage, ob westliche Waffen auch gegen Ziele in Russland eingesetzt werden dürfen, erhitzt weiter die Gemüter.

29.05.2024 | 02:28 min
Russland hat bereits aus der viel größeren FAB-1000 umgebaute Gleitbomben eingesetzt, und einige Male auch FAB-1500. Aufgrund ihrer extremen Zerstörungskraft ist die begrenzte Genauigkeit der Gleitbomben weniger ein Problem, denn bei mehreren hundert Kilogramm Sprengstoff macht es nicht viel aus, wenn die Bombe ihr Ziel um einige Dutzend Meter verfehlt. Gleitbomben können selbst gut befestigte ukrainische Stellungen mit einem einzigen Treffer in Schutt und Asche legen.
Die einzige gute Nachricht: Da sie keinen eigenen Antrieb haben, ist ihre Reichweite auf einige Dutzend Kilometer begrenzt, je nach Modell.

Pfeile oder Bogenschützen beschießen?

Zwar ist es technisch möglich, Gleitbomben während des Fluges aufzuspüren und abzufangen, doch ist dies in der Realität aufgrund der schieren Anzahl dieser Systeme in Russlands Besitz kaum eine praktikable Option. Der Versuch, alle ankommenden Gleitbomben abzuschießen, würde die ohnehin begrenzten Vorräte der Ukraine an modernen Luftabwehrraketen schnell aufbrauchen.
Daher kann die Ukraine ihr Territorium, ihr Militär und auch die Zivilbevölkerung und die Infrastruktur nur dann gegen solche russischen Angriffe verteidigen, wenn es ihr gelingt, russische Flugzeuge aus der Reichweite für den Abwurf ihrer Gleitbomben zu halten. Mit anderen Worten: Die Ukraine muss die russischen Kampfflugzeuge angreifen, die die Gleitbomben tragen, das heißt vor allem die Sukhoi Su-34-Bomber.

Putin fühle sich "dadurch, dass wir der Ukraine die Möglichkeiten beschränken, sich zu verteidigen, ermutigt, mit seinem Krieg fortzufahren", so der stellv. Vorsitzende der Unionsfraktion Johann Wadephul, CDU.

29.05.2024 | 04:45 min
Die Ukraine hat eine Reihe wichtiger Treffer gegen russische Flugzeuge im russischen Luftraum erzielt, indem sie ihre eigenen, ehemals sowjetischen Luftabwehrraketen einsetzte. So ist es der Ukraine beispielsweise gelungen, mit ehemaligen sowjetischen Luftabwehrraketen mindestens zwei Berjew A-50-Frühwarnradarsysteme, einen Iljuschin Il-22M-Luftgefechtsstand und eine Reihe anderer Flugzeuge abzuschießen. Die Vorräte an diesen Waffen sind jedoch äußerst begrenzt, und sie werden nicht mehr dort hergestellt, wo die Ukraine Zugang zu ihnen haben könnte.

Effektive Abwehr nur durch Einsatz in russischem Luftraum

Die einzige Möglichkeit für die Ukraine, sich gegen die russischen Gleitbomben zu verteidigen, ist daher der Einsatz von Luftabwehrraketen westlicher Bauart gegen die angreifenden russischen Jets mit Gleitbomben, selbst wenn diese vom russischen Luftraum aus angreifen.
Solange die Ukraine nicht die Erlaubnis dazu erhält, werden ukrainische Militärstellungen, Städte und Infrastrukturen in der Reichweite von aus dem russischen Luftraum abgefeuerten Gleitbomben praktisch schutzlos bleiben.

Keine Hinweise für Eskalationslogik

Bis heute lässt sich nichts darauf schließen, dass Russland sich in seiner Kriegführung einschränkt, weil der Westen der Ukraine rote Linien auferlegt.

Mit Drohnen beobachten ukrainische Soldaten, wie und wo die Russen auf russischem Territorium den Nachschub für Angriffe organisieren. Doch angreifen dürfen sie die Russen nicht.

30.05.2024 | 02:11 min
Einige argumentieren, dass es eine Eskalation darstellen würde, wenn die Ukraine russische konventionelle Kampfflugzeuge im russischen Luftraum abschießen dürfte. Natürlich weiß niemand im Voraus, was genau Russland tun würde. Es ist jedoch bemerkenswert, dass Russland bei früheren Gelegenheiten nicht eskaliert ist, als es der Ukraine gelang, wirklich seltene Luftfahrzeuge abzuschießen, zum Beispiel die Berjew A-50, die viel wertvoller sind als jeder Suchoi-34-Bomber.
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