Interview

: Keupp: "Russland in die Abnutzung zwingen"

11.04.2024 | 20:33 Uhr
Russland hat offenbar Probleme, Material-Nachschub an die Front zu bringen. Doch zur Gegenwehr reicht es auch bei der Ukraine nicht. Welche Taktik sie stattdessen wählen könnte.

Die Ukraine werde bewusst Gebiete aufgeben, um die Russen in die Abnutzung der Geräte zu zwingen, sagt der Militärökonom Marcus Keupp.

11.04.2024 | 24:50 min
Im Netz kursieren immer mehr Videos, die russische Truppen in ungepanzerten Fahrzeugen an der Frontlinie zeigen. Das nährt Gerüchte, Russland habe mit Ressourcenmangel zu kämpfen.
Im Gespräch bei ZDFheute live schätzt Militärökonom Marcus Keupp von der Militärakademie der ETH Zürich die Situation in der Ukraine ein.
Sehen Sie das Interview oben in voller Länge oder lesen es hier in Auszügen.
Das sagt Keupp zu ...

... den die Hinweisen auf Ressourcenmangel auf russischer Seite

Derzeit falle bei Videoaufnahmen von Russland an der Front auf "dass sie - ich scherze jetzt nicht - mit Golfkarts und ungepanzerten Geländefahrzeugen die Infanterie in das Feld bringen." Zum Vergleich: Zu Kriegsbeginn habe eine russische Kolonne im Feld noch aus 60 Panzern und 20 Schützenpanzern bestanden. "Jetzt fahren sie mit sowas und mit T-62, also Uraltpanzern, denen sie den Turm abmontiert haben", sagt Keupp.
Das sagt etwas über den Ressourcendruck aus, dem Russland unterliegt.
Marcus Keupp, Militärökonom
Russland bekomme zunehmend Probleme, gepanzerte Fahrzeuge "nachzuschieben", also an die Front zu bringen.

Die ukrainische Armee brauche mehr Soldaten. Aber die neue Entscheidung des Parlaments, Männer leichter einzuziehen, sei in der Bevölkerung umstritten, so ZDF-Reporter Hebestreit.

11.04.2024 | 05:08 min
Laut der Oryx-Liste habe das Land seit Kriegsbeginn bereits 2.920 Kampfpanzer verloren. "Das entspricht der ganzen einsatzfähigen Reserve, die vor dem Krieg da war." Somit komme alles, was jetzt nachgeschoben wird, aus alten sowjetischen Lagern und müsse erst instandgesetzt werden.
Wenn die Ukraine sich diesem Vormarsch jetzt entgegenstellen könnte, wenn sie genügend Artillerie, Luftverteidigung und so weiter hätte, dann würde Russland ziemlich schnell in eine prekäre logistische Lage hineinkommen.
Marcus Keupp, Militärökonom
Die "große Tragik" sei jedoch, dass es der Ukraine für einen solchen Gegenstoß an Artillerie mangele.

... Gerüchten zu einer möglichen russischen Großoffensive

Die hält Keupp derzeit wegen des Ressourcendrucks auf russischer Seite für unwahrscheinlich. "Sobald man anfängt, die Logistik ein bisschen abzutasten, halte ich das ehrlich gesagt für unglaubwürdig", sagt der Militärökonom.

Russland hat erneut die Energie-Infrastruktur der Ukraine angegriffen – unterdessen hat das Parlament in Kiew ein umstrittenes Gesetz zur Mobilisierung von Soldaten verabschiedet.

11.04.2024 | 03:15 min
Man müsse sich klarmachen, dass die gesamte Front eine Länge von fast 1.500 Kilometern habe. "Das russische Material ist sehr stark abgenutzt worden durch die massiven Angriffe nicht nur auf Awdijiwka, auch auf Marjinka zum Beispiel", so Keupp. Zudem würde man "wahrscheinlich ein paar Wochen im Voraus" sehen, wenn eine solche Offensive vorbereitet wird.
Möglich erscheine eine Offensive andererseits, weil auch die ukrainischen Abwehrmöglichkeiten schlechter als noch zu Beginn dieses Jahres seien und die Ukraine eben zunehmend unter Artilleriemangel leide.

... einer möglichen Taktik der Ukraine im weiteren Kriegsverlauf

Aktuell sei zu sehen, wie die russischen Truppen dabei seien, den kleinen Ort Ivanivske südlich von Bachmut einzunehmen und danach vorzustoßen nach Tschassiw Jar, so Keupp. "Normalerweise ist das etwas, was Sie als Ukraine nicht gestatten würden. Sprich: Man macht dem Gegner keine Zugeständnisse und man lässt ihn nicht Gelände gewinnen." Durch den Artilleriemangel könne die Ukraine den Gegner aber nicht bombardieren und so von den Eroberungen abhalten.

In der ukrainischen Armee herrscht Personalmangel. Ob die Absenkung des Wehrdienstalters der Rekrutierung viel hilft, ist fraglich – die Militärs greifen zu anderen Strategien.

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Es bringe auch nichts, Gebiete - wie beim Kampf um Bachmut - um den Preis hoher Verluste unbedingt zu halten und zu versuchen, Russland in die Abnutzung bei der Infanterie zu zwingen. "Das klingt jetzt zynisch, aber der russische Diktator kann Menschen in sehr großen Umfang nachschieben und opfern, damit hat er auch kein Problem. Die Ukraine kann das nicht."
Die Ukraine muss Russland also in die Abnutzung bei den Geräten, den Kampfpanzern, den Schützenpanzern und so weiter zwingen. Und das kann ihr nur gelingen, wenn sie den Vorteil des Geländes nutzt.
Marcus Keupp, Militärökonom
Man müsse sich also darauf einstellen, dass die Ukraine im Laufe des Jahres Gebiete verlieren wird. "Das ist taktisch gar nicht unklug, sowas zu machen", meint der Militärökonom, "weil es eben die Russen dazu zwingt, immer mehr Material vorzuschicken und Infanterie vorzuschicken und sich somit dieses Vorrücken im Gelände sehr teuer zu erkaufen.
Das ist eine Verzögerungstaktik, die auf logistische Abnutzung setzt.
Marcus Keupp, Militärökonom
Klar sei aber auch, dass diese Taktik nur eine gewisse Zeit lang funktioniere. "Wenn sie das jetzt nicht irgendwann kompensieren können durch eine Linie, wo sie Verteidigungsstellungen vorbereitet haben oder wo sie dann endlich Artillerienachschub bekommen und Gegendruck aufbauen können, geht das langfristig natürlich nicht gut."
Es sei aktuell eine entscheidende Situation. "Wir merken: Beide Seiten haben Probleme", so Keupp.

Nach zwei Jahren Krieg sind die ukrainischen Soldaten erschöpft. In Kiew wurde nun ein umstrittenes Rekrutierungs-Gesetz verabschiedet, um neue Soldaten für die Front zu gewinnen.

11.04.2024 | 01:51 min

... dem weiteren Vorgehen Russlands

Wladimir Putin wisse eines ganz genau, ist sich Keupp sicher: "Die Zeit läuft gegen ihn. Er muss in der kurzen Frist gewinnen. Er muss es schaffen, den Gegner an die Wand zu drücken und zu einem Friedensschluss zu zwingen, bevor das gesamte Industriepotenzial des Westens ihn platt macht." Das bedeute:
Wenn wir einen entschlossenen Westen hätten, wenn in Amerika diese Blockade irgendwann mal aufgegeben wird, wenn der Westen mal versteht, worum es hier wirklich geht und dann massiv Material hineinschiebt - nicht nur Artillerie, sondern auch Kampfflugzeuge und so weiter - dann hat Putin keine Chance.
Marcus Keupp, Militärökonom
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