: Wie geht das Leben in Butscha weiter?

27.10.2022 | 09:16 Uhr
Butscha ist zum Symbol für die Brutalität der russischen Invasion geworden. Mittlerweile gibt es wieder eine Art Alltag, vorbei ist das Grauen für viele aber noch lange nicht.
Eine Straße in Butscha nach der Besatzung durch russische Truppen(Archivfoto)Quelle: dpa
Der ukrainische Bäcker Jaroslaw Burkiwskyj bietet seine Brote neuerdings in einer russischen Waffenkiste an. Die feindlichen Soldaten haben die Behälter haufenweise zurückgelassen, als sie vor mehr als einem halben Jahr überstürzt aus dem Umland der Hauptstadt Kiew abrückten.
Nun steht eine der Kisten in Burkiwskyjs kleinem Häuschen am Rande der Stadt Butscha. Sie ist aus Holz, in militärischem Grün angestrichen und etwa einen Meter lang. Sie ist hoch genug, damit Dutzende Brote hineinpassen, und tief genug, damit sie oben noch ein Stückchen herausgucken und Kunden anlocken. Ein perfekter Aufbewahrungsbehälter, sagt Burkiwskyj.
Wir hätten natürlich trotzdem nur zu gerne darauf verzichtet.
Jaroslaw Burkiwskyj, Bäcker

Butscha - Symbol für schwerste Kriegsverbrechen

Butscha und weitere Kiewer Vororte waren direkt in den ersten Kriegstagen Ende Februar von Russlands Truppen erobert und rund einen Monat lang besetzt gehalten worden. Als die Russen sich schließlich angesichts ausbleibender militärischer Erfolge in Richtung Ostukraine zurückzogen, wurden in dem Gebiet Hunderte getötete Zivilisten gefunden - teils mitten auf der Straße. Fotos von Leichen mit Folterspuren und auf dem Rücken gefesselten Händen gingen Ende März um die Welt.
Und auch, wenn seitdem viele weitere Gräueltaten ans Licht kamen: Kaum ein anderer ukrainischer Ort ist in dem seit mehr als acht Monaten andauernden russischen Angriffskrieg so stark zu einem Symbol für schwerste Kriegsverbrechen geworden wie Butscha.
Der Bäcker Jaroslaw Burkiwskyj sitzt in seiner Bäckerei in Butscha.Quelle: dpa
Zu einem Bekannten seien russische Soldaten nach Hause gekommen und hätten ein Gewehr auf ihn gerichtet, erzählt Burkiwskyjs Bäcker-Kollege Viktor Kowaltschuk. "Jetzt erschießen wir dich, haben sie gesagt." Geschossen habe einer dann tatsächlich - aber nur auf die Mütze auf dem Kopf des Bekannten, erzählt Kowaltschuk. Ein "Scherz" sei das gewesen, hätten die Russen gesagt und seien wieder gegangen. "Solche Sachen sind hier passiert", sagt Kowaltschuk.

Überlebende halten zusammen

In den ersten Wochen nach der Besatzung ist die kleine Bäckerei mit den blauen Fensterläden zu einem Ort des Zusammenhalts der Überlebenden geworden. Nachbarn brachten Mehl aus ihren privaten Vorratskammern vorbei, erinnert sich Burkiwskyj. Gebacken wurde daraus Brot für alle. Wer konnte, zahlte. Wer nicht konnte, bekam es geschenkt.
In dieser schrecklichen Zeit haben die Menschen verstanden, dass sie nicht alleine sind auf dieser Welt. Manche hat das verändert.
Jaroslaw Burkiwskyj
Verändert hat der Krieg auch das Leben von Dmytro Haptschenko, dem Chef der Stadtverwaltung. Als im März mehr als 90 Prozent der einst rund 50.000 Einwohner von Butscha und Umgebung flohen, blieb der 45-Jährige aus Pflichtgefühl gegenüber denjenigen, die auch noch da waren.

Ehrenamtlich auf Spurensuche

Haptschenko hat leicht ergraute Haare, er wirkt müde und kämpferisch zugleich. Er trägt eine dunkelgrüne Outdoor-Jacke und robuste Wanderschuhe, kommt gerade zurück aus einem Waldstück, wo erst kürzlich die Leiche eines vermissten Bewohners gefunden wurde. Nun suchen er und andere Helfer dort nach Spuren, die auf die Identitäten der russischen Soldaten schließen lassen - und nach weiteren Gräbern.
Diese Arbeit macht er ehrenamtlich. Im März war auch er von den Besatzern entführt und rund einen Tag lang festgehalten worden. Dass er schließlich wieder freigelassen wurde, sei wohl pures Glück gewesen, erzählt er. Über die Toten im Wald sagt Haptschenko: "Das hätte auch ich sein können." Er macht eine kurze Pause, dann sagt er:
Wenn es so gekommen wäre, würde ich mir wünschen, dass man mich jetzt findet.
Dmytro Haptschenko, Chef der Stadtverwaltung von Butscha

Die russischen Angriffe gehen immer noch weiter

Draußen herrscht Luftalarm - seit einigen Tagen schon greifen Russlands Truppen auch Kiew und die Umgebung wieder massiv mit Raketen und Kampfdrohnen an. Das Interview geht trotzdem weiter. Wer erlebt hat, was Haptschenko erlebt hat, den bringt ein bisschen Sirenengeheul nicht mehr aus der Fassung, scheint es.
Auf seinem Handy zeigt er weitere Fotos. "Sie hier wurde mitten auf der Straße erschossen" - die Leiche einer älteren Frau erscheint auf dem Telefon-Display. "Sie trug eine weiße Binde am Oberarm, sehen Sie?", Haptschenko zoomt näher an den toten Körper heran. "Sie wollte deutlich zeigen, dass sie Zivilistin ist."
Beerdigung-Zeremonie in Butscha (Archivfoto)Quelle: dpa
Insgesamt haben die Behörden in Butscha bislang mehr als 460 getötete Einwohner registriert, befürchten aber noch deutlich mehr Opfer.
Trotz des Grauens: Das Leben in der Kleinstadt geht heute weiter. Handwerker streichen frisch reparierte Hausfassaden neu an. Cafés haben geöffnet, Menschen führen ihre Hunde Gassi, Kinder toben im Stadtpark. Innerlich aber seien viele Menschen weiter in einem "psychologischen Stresszustand", sagt Haptschenko.
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Quelle: Hannah Wagner, dpa

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