Interview

: Papier fordert Konsequenzen aus Pandemie

07.04.2024 | 16:49 Uhr
Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Papier, fordert eine Aufarbeitung der Corona-Pandemie. Er kritisiert manches Entscheidungsgremium von einst als "paralegal".

Schulschließungen, Impfpflicht, Ausgangssperren - war das verhältnismäßig? Die Politik diskutiert über die Aufarbeitung und Konsequenzen aus der Corona-Pandemie.

07.04.2024 | 04:08 min
ZDFheute: Herr Papier, Sie waren während der Corona-Pandemie ein Mahner. Sie haben mit Sorge auf die Grundrechtseinschränkungen geblickt. Was waren für Sie die massivsten Einschränkungen?
Hans-Jürgen Papier: Da könnte ich eine ganze Reihe von Grundrechtsbeschränkungen erwähnen. Beispielsweise rigorose Ausgangssperren, sodass Einzelpersonen nach 22 Uhr die Wohnung nicht mehr verlassen durften. Ein Infektionsrisiko, ein Ansteckungsrisiko war ja ersichtlich in einem solchen Fall nicht gegeben. Dann denken Sie an die Schulschließungen.
Man hat also in vielen Fällen versäumt, das ist mein Vorwurf, eine Abwägung vorzunehmen zwischen den widerstreitenden Belangen - also zwischen der Schwere der verfügten Grundrechtsbeschränkungen einerseits und dem denkbaren Nutzen oder der denkbaren Notwendigkeit der Schutzmaßnahmen.
Diese Abwägungen sind sehr häufig unterblieben, beziehungsweise dann erst viel zu spät erfolgt.
Hans-Jürgen Papier

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, blickt kritisch auf die Grundrechtseinschränkungen während Corona zurück. Es habe an Abwägungen gefehlt.

07.04.2024 | 00:32 min
ZDFheute: Ist ein wunder Punkt die Ministerpräsidentenkonferenz? Dort haben die Ministerpräsidenten recht intransparent mit der damaligen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gesprochen, man wusste aber oft nicht, wie sie zu Ergebnissen gekommen sind.

Zur Person

Hans-Jürgen Papier, geboren 1943 in Berlin, war von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Während der Corona-Pandemie hatte er argumentiert, nicht die Lockerung von Grundrechtseinschränkungen müssten rechtfertigt werden, sondern ihre Aufrechterhaltung.
Papier: Das ist ein Konstrukt, das in der Verfassung überhaupt nicht vorgesehen ist. Ein ziemlich apokryphes, paralegales Entscheidungsgremium [Anm. der Red.: zweifelhaftes, nebengesetzliches], das da gewissermaßen immer adhoc gebildet wurde.
Mein Vorwurf war ja von Anfang an, dass sich das vom Volk gewählte Parlament, sei es auf Bundesebene, sei es auf Länderebene, gewissermaßen aus dem ganzen Entscheidungsprozess herausgezogen hatte.
Hans-Jürgen Papier
Diese ganzen weitreichenden, flächendeckenden Grundrechtsbeschränkungen waren lange Zeit durch infektionsschutzrechtliche Verordnungen der Exekutive in Kraft gesetzt worden und das Parlament war in keinster Weise beteiligt.
Deshalb auch meine Forderung, in einer Enquete-Kommission darüber zu beraten, wie man unter Wahrung der rechtsstaatlichen Grundsätze, auch der demokratiestaatlichen Grundsätze, das Parlament, also die vom Volk gewählte Vertretung, stärker von Anfang an in die Entscheidungsprozesse einbeziehen kann.
ZDFheute: Sie sprechen sich für eine Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Pandemie aus, nicht etwa für einen Untersuchungsausschuss. Warum?
Papier: Untersuchungsausschüsse neigen dazu, bestimmte Amtsträger in die Rolle eines, ich sage es einmal untechnisch, Angeklagten zu versetzen. Das wäre nicht sinnvoll in dieser Phase. Ein Untersuchungsausschuss würde der weiteren Spaltung der Gesellschaft dienen, größeren Streit verursachen und alte Wunden aufreißen.
Dagegen ist die Enquete-Kommission durchaus ein geeignetes Instrument, denn eine Enquete-Kommission dient dazu, zukunftsorientierte Strategien zu entwickeln.
Also auch eine Enquete-Kommission müsste begangene Fehler oder getroffene Fehlentscheidungen aufdecken. Aber nicht, um gewissermaßen Vorwürfe zu erheben, sondern um aus Fehlern für die Zukunft zu lernen und das halte ich für durchaus angemessen, denn man muss ja berücksichtigen, die Corona-Krise hat die größte Herausforderung des Rechtsstaats gebracht.

Hessens ehemaliger Ministerpräsident Bouffier ist für eine Kommission zur Corona-Aufarbeitung. Man habe nichts zu verbergen, sagt er und nennt rückblickende Schuldfragen "albern".

07.04.2024 | 06:03 min
ZDFheute: Die Corona-Pandemie hat zu Verwerfungen in der Gesellschaft geführt. Wie schauen Sie heute auf dieses Land?
Papier: Es sind viele andere Krisenerscheinungen inzwischen aufgetreten, so dass in Gesellschaft und Politik Krisenbewältigung in Zeiten einer Pandemie etwas in den Hintergrund getreten ist. Aber im Unterbewusstsein oder vielleicht nicht ganz so vordergründig sind all diese Fragen nach wie vor in der Gesellschaft durchaus umstritten.
Ich hoffe, dass es im Rahmen einer Aufarbeitung, die nicht rückwärtsgewandt ist, eher zu einer Befriedung in der Gesellschaft in dieser Hinsicht kommt.
Hans-Jürgen Papier
Natürlich wird es immer Leute geben, die von einer fast manischen Verschwörungstheorie ausgehen, dass das alles im Grunde nur von der Politik absichtlich inszeniert wurde, um die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes gewissermaßen an diktatorische Handlungen oder Maßnahmen zu gewöhnen.
Das ist natürlich alles Unfug. Aber umso wichtiger ist es, um dies als Unfug, als Irrlehre zu erkennen, dass eine sachkundige, sachverständige Analyse des in den letzten Jahren während der Pandemie Geschehenen erfolgt. Und dass man auch überlegt, wie künftig das Gemeinwesen, der Staat, angemessen auf solche Notlagen, die immer wieder auftreten können, reagieren - unter Wahrung von Demokratie und Rechtsstaat.
Das Interview führte Britta Spiekermann, Korrespondentin im ZDF-Hauptstadtstudio. Das Gespräch wurde leicht gekürzt.

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