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: Fast 400 Tage Tarifstreit: Es ist kompliziert

von Anne-Kathrin Dippel
11.05.2024 | 11:01 Uhr
Seit fast 400 Tagen kämpft Verdi für mehr Lohn im Handel. Branchenübergreifend sind die Löhne dort besonders gering. Und der Tarifstreit dürfte daran erst einmal wenig ändern.
Über ein Jahr verhandeln Gewerkschaft und Handelsverband bereits über die Tarife im Einzelhandel.Quelle: iStock.com/TommL
2,50 Euro mehr pro Stunde - das fordert die Gewerkschaft Verdi für Beschäftigte im Einzelhandel. Seit November 2023 sind die Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite allerdings festgefahren. Diese bieten eine Lohnerhöhung von zehn Prozent sowie eine Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 750 Euro, verteilt auf zwei Jahre. Verdi lehnt dieses Angebot ab, die Beschäftigten würden so effektiv weniger verdienen als noch vor zwei Jahren.
Anfang März 2024 hatte der Handelsverband Deutschland seinen Mitgliedsunternehmen empfohlen, freiwillige Lohnerhöhungen von insgesamt maximal zehn Prozent umzusetzen. Einige Unternehmen kamen dieser Empfehlung bereits nach. Verdi sieht die Erhöhungen jedoch kritisch: Im Durchschnitt erhalte eine Verkäuferin dadurch 92 Cent mehr Gehalt pro Stunde.
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Die Gewerkschaft Verdi bestreikt Betriebe des Groß- und Einzelhandels. Verdi fordert für die Angestellten mehr Geld und will so den Druck in dem andauernden Tarifkonflikt erhöhen.

28.03.2024 | 00:23 min

Immer weniger Betriebe tarifgebunden

Die Zahl der an Tarifverträge gebundenen Einzelhandelsunternehmen sinkt seit dem Jahr 2000. Mittlerweile sind weniger als 30 Prozent der Einzelhandelsunternehmen an Tarife gebunden, so die aktuellen Ergebnisse der Arbeitgeberbefragung des Instituts für Arbeitsmarkt und Betriebsforschung.
Die Gewerkschaft hat in der Branche zu wenige Mitglieder und daher nicht die Stärke, die Unternehmen zu einem Tarifabschluss zu zwingen.
Prof. Dr. Gerhard Bosch, Seniorprofessor am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen
Die Verluste, die bisher durch die Streiks entstanden sind, seien dadurch nicht hoch genug gewesen und von den Betrieben in Kauf genommen worden.
Viele Betriebe, die keine Tarifverträge haben, sind dennoch Mitglieder des Handelsverband Deutschland (HDE). Dieser vertritt die Interessen der Einzelhandelsunternehmen bei den Tarifverhandlungen. "Obwohl sie nicht tarifgebunden sind, beeinflussen auch diese Unternehmen bei den Tarifverhandlungen mit", erklärt Bosch.
Durch die monatelangen Verhandlungen und die freiwilligen Lohnerhöhungen mancher Unternehmen sei zudem die Streikbereitschaft vieler aktiver Gewerkschaftsmitglieder gesunken, so Bosch. "Sie haben der Gewerkschaft damit den Wind aus den Segeln genommen, das ist ein Arbeitskampfmittel."

Die Stimmung im Einzelhandel ist aufgrund der Inflation und der Zurückhaltung der Kunden schlecht. Wie die Umsätze für das abgelaufene Jahr ausfallen, weiß Frank Bethmann.

05.01.2024 | 01:13 min

Umsatzplus bei vielen Händlern

"Insgesamt geht es dem Einzelhandel in Deutschland durchwachsen", so Gerhard Bosch. Auch wenn Onlineshops für lokale Geschäfte weiterhin ein Problem darstellen, gibt es "insbesondere im Lebensmittelbereich und bei den großen Möbelhändlern ein kräftiges Umsatzplus". Gleichzeitig liegen die Löhne im Einzelhandel im Vergleich zu anderen Branchen deutlich unter dem Durchschnitt.
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Das sei nicht neu: Schon lange sei die Bezahlung für Handelsangestellte niedrig, so Bosch. Doch der hohe Wettbewerbsdruck und die hohen Personalkosten im Handel führen dazu, dass sich immer mehr Firmen gegen Tarifverträge entscheiden, um ihre Personalkosten zu senken.
Die Unzufriedenheit unter den Beschäftigten ist dementsprechend hoch: 85 Prozent gaben in einer Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung an, ihr Gehalt als nicht gerecht zu empfinden.
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Hohe Teilzeitquote, wenig gewerkschaftliche Organisation

Neben der sinkenden Tarifbindung bei den Einzelhandelsbetrieben ist die Beschäftigungsstruktur laut des Experten ein Problem der Branche: Mit 67 Prozent ist die Mehrheit der Beschäftigten weiblich. Dieser Anteil sei traditionell so gewachsen, sagt Bosch. Damit sei auch die Teilzeitquote in der Branche hoch: 62 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel arbeiten in Teilzeit oder auf Minijob-Basis Für viele Frauen seien Teilzeit oder Minijob die einzige Möglichkeit, Job und Familie zu vereinbaren. Angestellte in diesen Arbeitszeitmodellen organisieren sich laut Bosch jedoch seltener in Gewerkschaften.
Gute Löhne sind das Ergebnis von kollektiver Organisation. Die Frauen müssen sich organisieren.
Prof. Dr. Gerhard Bosch, Seniorprofessor am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen
Für die aktuellen Tarifverhandlungen sieht der Experte aus diesen Gründen wenig Spielraum für Verdi. Auch wenn die Gewerkschaft die Erhöhung von zehn Prozent und die Inflationsprämie als zu niedrig ablehne: "Von den Beschäftigten wird diese sehr willkommen geheißen", sagt Bosch.

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