: Was gegen Weidels Brexit-Vorschlag spricht

von Hilke Petersen, London
22.01.2024 | 21:58 Uhr
AfD-Chefin Alice Weidel hält den Brexit für ein "Modell für Deutschland". In Großbritannien dagegen bedauern viele den Austritt aus der EU - warum das so ist.
Alice Weidel findet den Brexit richtig. Die Briten dagegen sehen die Nachteile des EU-Ausstiegs immer klarer.
Wenn die AfD könnte, wie sie wollte, sie würde in jedem Fall die EU reformieren, um deren "demokratisches Defizit" zu beheben. Plan B der AfD: Deutschland solle aus der EU austreten.
Im Europawahlprogramm der Partei ist von "Neugründung" der EU die Rede. Sollte die scheitern, dann sei Zeit für einen "Dexit", so äußerte sich die Parteivorsitzende Alice Weidel gegenüber der britischen Financial Times. "Es ist ein Modell für Deutschland, dass man souveräne Entscheidungen wie diese treffen kann." Weidel findet, der Brexit sei "verdammt richtig" gewesen.

Die AfD hat sich die Neugestaltung der EU zum Ziel gesetzt. Co-Partei-Chef Chrupalla erläuterte beim ZDF-Sommerinterview Beschlüsse des Parteitages näher.

06.08.2023 | 01:15 min

In Großbritannien macht "Bregret", also Brexit-Bedauern, die Runde

Wenn sich in Großbritannien Ende Januar der Jahrestag des Brexits nähert, versucht sich die britische Presse traditionell an so etwas wie einer Bilanz. Schwer zu fassen, wie "das Land" seine Eigenständigkeit nach dem erbitterten Kampf um den Austritt empfindet, ist es doch noch immer gespalten über das heikle Thema. Das zudem jeden nervt und deshalb politisch fast ein Tabu ist. Im kommenden Wahlkampf am besten nicht erwähnen.

Dabei sind die Folgen des Austritts aus der EU überall im Alltag gegenwärtig: Fachkräftemangel wird weiter befeuert, weil Arbeitsvisa teuer sind. Zollvorschriften quälen Unternehmen mit viel neuer Bürokratie. Die Regierung versucht mühsam, neue Handelsabkommen jenseits Europas mit anderen Partnern zu verhandeln. Fast vier Jahre nach dem EU-Austritt stehen zwar Hardcore-Brexiteers zu ihrer Entscheidung, fragt man sie direkt. Viele andere aber zweifeln und sind unzufrieden.
Die Vokabel "Bregret" macht die Runde, also Brexit-Bedauern. Aber der Brexit geht einfach nicht wieder weg.

Am 31.01.2020 war es offiziell: Das Vereinigte Königreich ist raus aus der EU. Was wurde aus den Versprechen der "Leave"-Kampagne?

31.01.2023 | 02:12 min

Brexit-Studie zeigt Unzufriedenheit

Eine Studie versuchte zuletzt in der herbstlichen Parteitags-Saison zu ergründen, warum es so schwer ist, die Briten beim Brexit und ihrer Haltung dazu festzunageln. "Exploring Bregret: Public attitudes to Brexit, seven years on" (Bregret erforschen: Haltungen zum Brexit, sieben Jahre danach) heißt die Untersuchung der Denkfabrik "UK in a changing Europe". Die zeigt: Nur einer von Fünfen, der für den Austritt stimmte, findet, dass es seither gut läuft im Königreich. Die anderen fühlen sich unwohl.
Die schwächelnde Wirtschaft nennen die meisten als Grund - egal, ob sie für oder gegen den Austritt waren. Und assoziieren mit dem Brexit, was mies läuft in ihrem Alltag: Etwa steigende Lebenshaltungskosten (79 Prozent), Fachkräftemangel im medizinischen Bereich (42 Prozent). Gestehen aber zu, dass auch die Corona-Pandemie dazu beigetragen haben dürfte.

Britische Assistenzärzte haben den längsten Streik in der Geschichte des staatlichen Gesundheitsdienstes begonnen. Sechs Tage lang legen sie ihre Arbeit nieder.

04.01.2024 | 01:49 min
Pessimistisch sind die meisten, was den langfristigen Einfluss des Brexits angeht. Weniger als ein Drittel der Wähler glauben, dass sich die Dinge zum Guten wenden. Gleichzeitig aber bedeutet das nicht zwingend, dass sie bedauern, für den Brexit gestimmt zu haben. Tatsächlich sagt eine Mehrheit sogar, dass sie wieder so wählen würden wie 2016 - heute besser darüber im Bilde, was sie täten.
Das soll einer verstehen - außerhalb Großbritanniens.

Länder können nicht völlig unabhängig auf dem Weltmarkt bestehen

Dass das knappe "Ja" zum Austritt auf falschen Voraussetzungen gründete, darüber sind sich Brexitgegner und - befürworter heute weitgehend einig. Zu komplex, zu schlecht erklärt, viele Argumente einfach erlogen von denen, die Kampagne machten für den Brexit. Die Slogans vom freiheitlichen Handel ohne EU-Vorschriften war viel zu einfach, denn Länder können nicht völlig unabhängig auf dem Weltmarkt bestehen.
Und Handelsabkommen ersetzen nicht einfach den europäischen Binnenmarkt, den man verlassen hat - das ist vier Jahre danach klar. Vor allem aber macht es das Leben für die Unternehmen schwerer und teurer, die versuchen, auf beiden Märkten zu bestehen. Kleinere Unternehmen leiden darunter am meisten.

Händler rechnen mit Verzögerungen wegen neuer Zollvorschriften

Die Qual mit der Bürokratie trifft in gut einer Woche weitere Branchen - ab 31. Januar. Wer Blumen oder Gemüse importiert, bekommt es mit unterschiedlichen "Risikoklassen" zu tun, die bei der Einfuhr zu erklären sind. Die Großhändler im New Covent Garden Market in London rechnen mit Verzögerungen bei frischen Produkten.

Vor dem Brexit wurde der irische Rosslare Europort wenig genutzt. Nun stieg der Frachtverkehr um das Fünffache und auch die Whiskey-Exporte Irlands waren 2022 bei einem Rekordhoch.

24.03.2023 | 02:02 min
Denn werde ein Lkw mit unterschiedlich klassifizierten Waren aufgehalten, könnten auch eher verderbliche davon betroffen sein. Und die Köche in Londons Spitzenrestaurants verstünden da keinen Spaß. Kunden zu vergraulen, sagen die Händler, sei das Schlimmste.
Fragt man sie, ob sie seit Brexit Vorteile für sich erkennen, ist die Antwort bei vielen ein klares "no".

Als würde Europa am Horizont langsam verschwinden

Sich freizumachen von den Fesseln der EU, das bedeutet in der Realität für viele Bereiche inzwischen eher wachsende Trennung. Der Schüler-Austausch schrumpft merklich, entsprechende Uni-Programme auch. Auch aus politischen Parteien verschwinden nach und nach die, die irgendwann mal in Brüssel Erfahrungen gesammelt haben. Eine "Ent-Europäisierung" bemerken Politiker, die etwa Schwesterparteien nach längerer Zeit in London mal wieder besuchen. Es ist ein bisschen so, als würde Europa am Horizont verschwinden.

Die Deutsche Botschaft schlägt Alarm: Der Studentenaustausch zwischen Deutschland und Großbritannien ist nach dem Brexit eingebrochen.

19.01.2024 | 02:13 min
Wessen Freiheit also wurde größer? Die von britischen Politikern, so scheint es - ganz ohne die Vorgaben der EU. Es wurden zwar nur etwa 600 Gesetze ausgesondert, weil sie unter EU-Bedingungen zustande gekommen waren, nicht Tausende - wie einst behauptet. Aber schon die bringen die Verwaltungen der Ministerien an den Rand der Überforderung.
Was den Briten - egal auf welcher Seite sie stehen - klarer zu werden scheint: Nicht alle Mängel in ihrem Land hatten zu tun mit der EU. Das hatte ihnen die Brexit-Kampagne vorgemacht. Brüchige Infrastruktur, große regionale Einkommens-Unterschiede, überforderte Verwaltungen und ein schwächelndes Gesundheits-System - all das ist in vier Jahren eher schlechter geworden.
Hilke Petersen ist Leiterin des ZDF-Studios London.

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