: Russland bereitet sich auf Offensive vor

von Christian Mölling, András Rácz
20.04.2023 | 08:50 Uhr
Russland hat Befestigungen und Sperren in der Frontregion errichtet. So soll die ukrainische Offensive aufgehalten werden. Doch die Qualität der Verteidigung variiert stark.
Russland bereitet sich wohl schon länger auf den Gegenangriff der Ukraine vor.Quelle: imago/imagebroker
Russland bereitet sich seit langem auf den bevorstehenden Gegenangriff der Ukraine vor, indem es verschiedene Arten von Befestigungsanlagen in den besetzten Gebieten errichtet. Einem kürzlich erschienenen Artikel der spanischen Zeitung El País zufolge haben die russischen Truppen bisher mehr als 800 Kilometer an verschiedenen Befestigungsanlagen in den von ihnen besetzten ukrainischen Gebieten gebaut.
Die verfügbaren Satellitenbilder sowie die geographische Verteilung dieser Befestigungen lassen einige Rückschlüsse auf die Erwartungen Russlands an die ukrainische Offensive sowie auf die Prioritäten Moskaus zu.

Russland will Achilles-Ferse schützen

Russland hat demnach die meisten Befestigungen in den besetzten Regionen Saporischschja und Cherson errichtet: In der Nähe der Frontlinie wurden drei getrennte Verteidigungslinien erstellt, die jeweils aus Schützengräben, Minenfeldern, Stacheldrahtbarrikaden, Panzerabwehrgräben sowie aus Schießstellungen aus Stahlbeton und Fertigbunkern bestehen. Diese starken Verteidigungsanlagen sollen den bevorstehenden ukrainischen Gegenangriff aufhalten.
Es ist kein Zufall, dass sich die Befestigungen auf die Frontlinie konzentrieren. Der Grund dafür ist, dass südlich der Frontlinie, etwa 40 Kilometer davon entfernt, eine strategisch wichtige Eisenbahnlinie vom Donbass zur Krim verläuft. Seit der Beschädigung der Kertsch-Brücke im Oktober 2022 ist diese Strecke die einzige noch funktionierende Eisenbahnverbindung, die die russischen Streitkräfte auf der Krim und in der Region Cherson mit Russland selbst verbindet.
Diese Bahnlinie spielt eine entscheidende Rolle für ihre Versorgung. Daher ist es ein vorrangiges Ziel eines künftigen ukrainischen Gegenangriffs, diese Eisenbahnlinie zu kappen oder zu besetzen und so die Nachschublage der in den Regionen Saporischschja und Cherson kämpfenden russischen Streitkräfte zu schwächen. Das dicht ausgebaute Netz russischer Befestigungen in der Frontzone soll dieses Szenario verhindern.

Dr. Christian Mölling ...

Quelle: DGAP
... ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und leitet dort das Programm Sicherheit, Verteidigung und Rüstung. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.

Dr. András Rácz ...

Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.

Luhansk nur schwach befestigt

Gemessen an der geographischen Verteilung der Befestigungen ist das Netz im nördlichen Teil der Region Luhansk am wenigsten dicht. Hier hat Russland zwar einige Verteidigungsanlagen im Frontgebiet errichtet, sich aber nicht um den Bau mehrschichtiger, tiefgreifender Verteidigungsanlagen bemüht.
Der wahrscheinliche Grund dafür ist, dass Russlands Fähigkeiten zum Bau von Befestigungsanlagen begrenzt sind und dass der nördliche Teil der Region Luhansk - eine dünn besiedelte, landwirtschaftlich geprägte und ziemlich arme Region - für Moskau eine viel geringere Priorität hat als die Verteidigung der äußerst wichtigen Region Saporischschja.

Wohl kein volles Vertrauen in die eigene Abwehrfähigkeit

Dennoch baut Russland eine weitere, ebenfalls starke Verteidigungslinie im nördlichen Teil der Krim auf, dort, wo die Halbinsel mit dem ukrainischen Festland verbunden ist. Dies deutet darauf hin, dass selbst das russische Oberkommando nicht ganz davon überzeugt ist, dass die Befestigungen in Saporischschja den ukrainischen Gegenangriff aufhalten können, und dass die Militärs es daher für notwendig halten, auch den Zugang zur Krim zu befestigen.

Schnelligkeit vor Qualität bei russischen Verteidigungsanlagen

Auf den verfügbaren Satellitenbildern ist zu erkennen, dass die in den besetzten Gebieten errichteten Befestigungen von sehr unterschiedlicher Qualität sind. An einigen Stellen sind die Gräben breit, sie folgen dem Gelände und die Bunker sind gut in die natürliche Umgebung eingebettet.
An vielen anderen Stellen scheinen die Verteidigungsanlagen jedoch recht hastig errichtet worden zu sein. So ragen beispielsweise vorgefertigte Bunker aus dem Boden, was sie zu einem leichten Ziel macht. Die oft als "Drachenzähne" bezeichneten Panzersperren sind nicht immer ordnungsgemäß in den Boden einzementiert, sondern werden einfach aufgestellt, so dass sie selbst mit einem einfachen Bulldozer relativ leicht zu entfernen sind. Alles in allem hat Russland beim Bau dieser Festungsanlagen offenbar Wert auf Schnelligkeit und Länge gelegt und nicht auf die Qualität der Gebäude.
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