: Wenn Freiwillige für den Staat einspringen

von Katja Belousova und Jonas Helm
28.04.2022 | 10:47 Uhr
Mehr als 380.000 Menschen sind aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Städte und Ämter sind überfordert. Deshalb müssen Freiwillige ran. Wie lange halten die Helfer noch durch?
Wer die Auswirkungen der Fluchtbewegung aus der Ukraine sehen will, sollte das Geflüchteten-Café in Kaarst, Nordrhein-Westfalen, besuchen. Mehr als hundert überwiegend ukrainische Frauen und Kinder kommen dort täglich in den Keller einer ehemaligen Bankfiliale, der zum Geflüchteten-Treffpunkt umgewandelt wurde.
Natalliia ist mit ihren zwei Kindern aus Kiew vor dem Krieg geflohen. Im Geflüchteten-Café werden sie von Freiwilligen betreut, bekommen von ihnen Kleidung, Frühstück, eine warme Mahlzeit. Alles hier ist spendenfinanziert.
"Ich möchte den Freiwilligen hier von ganzem Herzen Danke sagen", sagt Natalliia mit einem Lächeln. Doch sowohl der jungen Frau als auch den Freiwilligen vor Ort ist bewusst: Ewig werden sie dieses Pensum nicht durchhalten können. "Die Stimmung unter den Freiwilligen ist langsam eine ermüdende“, sagt Daniel Görnert, Gründer des Geflüchteten-Cafés.
Das normale Leben holt einen auch ein.
Daniel Görnert, Gründer des Geflüchteten-Cafés

Zwei Milliarden Euro für Länder und Kommunen

Mehr als 380.000 Menschen sind laut offiziellen Zahlen des Bundesinnenministeriums vor dem Krieg aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. "Schon 2015 wäre ohne die Freiwilligen ganz wenig in Deutschland gelaufen und die gleichen Freiwilligen plus etliche andere machen sich jetzt wieder auf den Weg. Das sieht man auch in Kaarst", sagt die Bürgermeisterin der Stadt, Ursula Baum.
Ohne die Ehrenamtlichen hätte Deutschland auch das wieder nicht geschafft.
Ursula Baum, Bürgermeisterin von Kaarst
Anfang April hatte die Bundesregierung Ländern und Kommunen zusätzlich zwei Milliarden Euro für Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten versprochen. Denn viele Städte sind überfordert: Um die Ukrainer*innen versorgen zu können, müssen sie an anderer Stelle sparen. Bürgermeisterin Baum sagt, in Kaarst sei von diesem Geld bisher nichts angekommen. Über 400 Geflüchtete aus der Ukraine muss die Stadt versorgen, das ist teuer. Für das laufende Jahr gilt eine Haushaltssperre, das heißt bei anderen Ausgaben muss gespart werden.

Knapper Wohnraum in Kaarst

Weil zudem die einzige Unterkunft der Stadt voll ist, muss Baum Geflüchtete künftig in einer Turnhalle unterbringen - oder bei Kaarster Familien. 90 Prozent der Ukrainer*innen sind ohnehin schon privat untergebracht.
Eine Frage, die sich Geflüchtete und ihre Gastfamilien dabei stellen: Wie lange funktioniert diese Übergangslösung? Denn Wohnraum ist knapp und die Verteilung der Menschen in andere, weniger ausgelastete Kommunen ist in vielen Fällen wegen Wohnsitzauflagen schwierig: Sind Ukrainer*innen einmal in einer Stadt gemeldet - sei es in einer Notunterkunft oder bei einer Familie - und auf Sozialleistungen angewiesen, können sie nicht einfach in eine andere Stadt umziehen.

Geflüchtete verzweifeln an deutscher Bürokratie

Auch bei ihren Anträgen auf staatliche Hilfen sind viele geflüchtete Ukrainer*innen auf die Unterstützung Freiwilliger angewiesen. Kristina und Lena, zwei Freundinnen, die mit ihren Kindern aus Dnipro nach Berlin geflohen sind, können sich dabei auf die Hilfe ehrenamtlicher Dolmetscher in ihrer Notunterkunft verlassen. Diese helfen beim Ausfüllen und Übersetzen der nötigen Dokumente, erzählen die beiden.
Trotzdem verzweifeln beide Frauen aktuell an der deutschen Bürokratie: "Ich warte seit einem Monat auf einen Termin beim Amt für Migration, meine Dokumente habe ich bereits online eingereicht, doch gehört hab ich nichts", erzählt Lena. Kristina ist hingegen bereits als Schutzsuchende in Berlin registriert, sie hat ein anderes Problem.
Ich bin zwei Monate hier, bekomme noch immer keine Sozialhilfe und habe keinen Cent.
Kristina, Geflüchtete
Deshalb ist sie auf Kleider- und Sachspenden angewiesen, Essen und einen Schlafplatz bekommt sie in ihrer Notunterkunft.

Jobcenter sollen Menschen aus der Ukraine betreuen

Diana Henniges überrascht das nicht: Sie sieht täglich, dass Geflüchtete lange Wartezeiten bei Behördengängen in Kauf nehmen müssen. Henniges ist Gründerin der freiwilligen Nachbarschaftsinitiative "Moabit hilft e.V." in Berlin und berät Menschen aus der Ukraine. Die Verwaltung der Hauptstadt und das Landesamt für Einwanderung seien seit Jahren unterfinanziert. "Auch die Digitalisierung dieser ganzen Prozesse steht aus. Es fällt immer alles zusammen. Die ganzen Server sind stetig überlastet", kritisiert sie.
Und das schon bevor in der Ukraine der Krieg ausbrach.
Diana Henniges, Gründerin "Moabit hilft e.V."
Um Behördengänge zu vereinfachen, einigten sich Bund und Länder Anfang April darauf, dass die Geflüchteten aus der Ukraine ab Juni komplett aus einer Hand betreut werden - und zwar von den Jobcentern der Bundesagentur für Arbeit. Sie sollen künftig Arbeitslosengeld II an die Geflüchteten auszahlen und eine bessere medizinische Versorgung ermöglichen. Auch die Kosten für Unterbringung und Verpflegung würden damit vom Bund übernommen. Die Kommunen sollen so auch finanziell entlastet werden.  

Jobcenter warten auf Gesetz der Bundesregierung

Doch bisher hat die Bundesregierung dazu noch kein Gesetz vorlegt, den Jobcentern bleiben noch gut vier Wochen, um sich auf die neue Situation vorzubereiten. Tausende Anträge auf Sozialleistungen prüfen, Gespräche mit den Geflüchteten führen - das alles kostet viel Zeit und Personal. Wenn die Umstellung auf die Jobcenter bis Juni nicht reibungslos funktioniert, könnten im Sommer viele Ukrainer*innen ohne staatliche Hilfen dastehen.
Dann müssen wieder die Freiwilligen ran - die Frage ist nur: Wie viele werden überhaupt noch die Kraft haben, zu helfen? 

Ukraine: Hier können Sie spenden

Quelle: ZDF
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Wie arbeitet das Aktionsbündnis?

Das Aktionsbündnis Katastrophenhilfe hilft Menschen in der Ukraine und auf der Flucht. Gemeinsam sorgen die Organisationen Caritas international, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie Katastrophenhilfe und UNICEF Deutschland für Unterkünfte und Waschmöglichkeiten, für Nahrungsmittel, Kleidung, Medikamente und andere Dinge des täglichen Bedarfs. Auch psychosoziale Hilfe für Kinder und traumatisierte Erwachsene ist ein wichtiger Bestandteil des Hilfsangebots.
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