: Warum die Gegenoffensive so langsam vorangeht

von Christian Mölling und András Rácz
05.07.2023 | 20:59 Uhr
Kiew hüllt sich in strenges Schweigen, wie die Gegenoffensive im Krieg gegen Russland derzeit verläuft. Dass sie bislang so langsam voranschreitet, ist offenbar Teil der Strategie.
Deutsche Gepard-Panzer spielen eine wichtige Rolle in der ukrainischen Gegenoffensive.Quelle: Reuters
Die Gegenoffensive der Ukraine verläuft langsam und sicherlich langsamer als von vielen westlichen Kommentatoren erwartet. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Gegenoffensive gescheitert ist oder die Ukraine ihre Chance auf einen strategischen Durchbruch verloren hat. Natürlich kann es sein, dass das Endergebnis viel schlechter ausfällt als von der Ukraine erwartet. Aber zum jetzigen Zeitpunkt, Anfang Juli, kann niemand mit Sicherheit ein negatives oder positives Ergebnis vorhersagen - und zwar aus einer Reihe von Gründen.

Westliche Erwartungen und Geheimhaltung

Der Nebel des Krieges verhindert, dass Analysten, die mit offenen Quellen arbeiten, die ukrainischen Pläne genau kennen. Die Ukraine hüllt sich in so strenges Schweigen über ihre Pläne, dass sich sogar Kiews westliche Verbündete über den Mangel an aussagekräftigen Informationen beschweren. Da uns die Pläne der Gegenoffensive unbekannt sind, ist es kaum gerechtfertigt, über Erfolg oder Misserfolg zu urteilen.

Die Gegenoffensive der ukrainischen Armee kommt nach Regierungsangaben aus Kiew voran, offenbar jedoch nur langsam. Es herrscht Sorge vor einem langwierigen Stellungskrieg.

03.07.2023 | 02:49 min
Der zweite Grund, warum es zu früh ist, die ukrainische Gegenoffensive endgültig zu beurteilen: Ihre Hauptanstrengung hat noch nicht begonnen. Man darf die relativ kleinen Angriffe in der ersten Juniwoche, von denen einige schlecht endeten, nicht mit dem möglichen Hauptstoß oder Durchbruch der Gegenoffensive verwechseln.

Hauptoffensive hat noch nicht begonnen

Derzeit führt die Ukraine die erste Phase der Gegenoffensive durch und bereitet sich auf die bevorstehenden Durchbruchsversuche vor. Aber das ist derzeit noch nicht die Hauptaufgabe.
In den letzten Wochen hat die Ukraine eine asymmetrische Zermürbungsschlacht geführt, bei der es in erster Linie darum geht, Russlands Personal und militärische Ausrüstung zu schwächen und ukrainische Menschenleben zu schonen. Und nicht darum, so schnell wie möglich voranzukommen. In dieser Phase der Gegenoffensive ist die Größe des zurückgewonnenen Territoriums eindeutig von untergeordneter Bedeutung.

Dr. Christian Mölling ...

Quelle: DGAP
... ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und leitet dort das Programm Sicherheit, Verteidigung und Rüstung. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.

Dr. András Rácz ...

Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.
Die ukrainischen Streitkräfte rücken vorsichtig und sehr genau vor. Sie versuchen, das Fehlen von Luftstreitkräften durch den Einsatz von drohnengesteuerter Artillerie mit großer Reichweite auszugleichen.
Der aktive Einsatz von Gegenfeuer, bei dem die Ukraine russische Artillerieanlagen weit außerhalb ihrer eigenen Reichweite ausschaltet, ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Operation. Natürlich ist das fast vollständige Fehlen von Luftkampfeinheiten (mit Ausnahme einiger, eher symbolischer Hubschrauberangriffe) immer noch ein ernsthafter Mangel.

Russischer Nachschub wird schwieriger

In der Zwischenzeit hat die Ukraine durch den Einsatz von Langstreckenartillerie, "Storm Shadow"-Marschflugkörpern, Spezialdrohnen und anderen Mitteln systematisch russische Munitionsdepots, Gefechtsstände, Nachschub, Truppenquartiere und andere Elemente der Infrastruktur für die Kriegsführung angegriffen.
Die ukrainischen Angriffe mit großer Reichweite zwingen die Russen, ihren wertvollen Nachschub weit hinter die Frontlinie zu verlegen, außerhalb der Reichweite der westlichen ukrainischen Artillerie, was die Versorgung der russischen Streitkräfte an der Front erschwert.

Beispiel für einen Frontverlauf

Wie kann man sich einen Frontverlauf im Ukraine-Krieg vorstellen? Die ukrainische Armee hat es mit einer kilometerweiten Anlage zu tun, die sie bei ihrer Gegenoffensive überwinden muss.

Quelle: ZDF

Die Ukraine hat bisher nur einen Bruchteil ihrer für die Gegenoffensive aufgestellten und bereitgestellten Kräfte eingesetzt. Insgesamt hat die Ukraine etwa 35 Brigaden für ihre Gegenoffensive aufgestellt. Davon sind zwölf völlig neu (neun davon mit westlicher Ausbildung und Ausrüstung, die anderen drei mit ex-sowjetischer), während die übrigen ältere, erfahrenere Einheiten sind.
Man muss also alle Kräfte als Potenzial in die Bewertung einbeziehen, nicht nur die bislang aktiven. Bislang sind nur vier Brigaden im Einsatz, während die übrigen im Hinterland auf ihren Einsatz warten. Alles in allem hat die Ukraine bisher nur etwa 10 bis 15 Prozent ihrer speziellen Gegenoffensivkräfte für den Angriff eingesetzt.

Russische Kräfte werden dezimiert

Die russische Armee ist definitiv nicht in der Lage, eine größere Gegenoffensive zu starten. Sie verfügt nicht über genügend moderne Panzer und gepanzerte Mannschaftstransporter, und auch die Munitionsvorräte werden immer knapper. Außerdem fügt die Ukraine den russischen Artilleriesystemen an der Frontlinie zunehmend schwere Verluste zu.

Der US-Auslandsgeheimdienst CIA versucht in Russland Agenten mit Videos anzuwerben. An der Front in der Süd- und Ostukraine gehen derweil die Kämpfe weiter, so auch bei Bachmut.

02.07.2023 | 01:54 min
Die Größe der Kräfte, über die Russland zweifellos verfügt, reicht für eine Offensive von operativem oder strategischem Ausmaß nicht aus. Selbst wenn die ukrainische Gegenoffensive in einer Niederlage enden würde, wäre Russland also nicht in der Lage, einen schnellen Angriff zu starten, weil es einfach nicht über das notwendige schwere Gerät verfügt.
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