: Warum die Nato so unentschlossen ist

von Elmar Theveßen, Vilnius
11.07.2023 | 23:51 Uhr
Die von der Ukraine geforderte Nato-Beitrittseinladung ist beim Vilnius-Gipfel bisher ausgeblieben. Nun stehen die großen Staaten da, als hätten sie Angst vor dem Mut der Kleinen.

Konkrete Zusagen für einen Nato-Beitritt der Ukraine hatte Präsident Selenskyj gefordert.

11.07.2023 | 03:10 min
Es lässt sich hier an keiner Ecke übersehen: Die Menschen in Vilnius haben keine Angst. Gelb-blaue Flaggen überall, Sprüche auf den Fenstern der Journalistenbusse: "Während Du auf den Bus wartest, wartet die Ukraine darauf, Mitglied der Nato zu werden." Und dann Zehntausende, die auf einer Wiese im Stadtkern dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zujubeln.
"Ich glaube an eine starke Nato", ruft er, "eine Nato, die nicht zaudert, die keine Zeit verschwendet, nicht zurückblickt auf einen Aggressor. (…) Und ich wünsche mir, dass aus diesem Glauben Vertrauen erwächst, Vertrauen in die Entscheidungen, die wir verdienen." Worte, für die Selenskyj gefeiert wird, denn er spricht den Menschen aus der Seele.

Der tschechische Außenminister Jan Lipavský sieht in einem möglichen Nato-Beitritt der Ukraine keine weitere Eskalation. Er werde stattdessen "Sicherheit nach Osteuropa bringen."

11.07.2023 | 05:29 min

Die Angst der Großen vor dem Mut der Kleinen

Am Ende dieses ersten Gipfeltages stehen die Großen der Nato da, als hätten sie Angst vor dem Mut der Kleinen in ihrem Bündnis. Dabei klingt doch ihre Haltung für die Menschen in ihren Ländern so vernünftig: Ein schneller Nato-Beitritt der Ukraine könnte die Allianz in den Krieg mit Russland ziehen.
Geradezu abwegig erscheint den Westeuropäern und den USA das Argument vieler osteuropäischer Partner, Russlands Streitkräfte würden einen Nato-Staat Ukraine fluchtartig verlassen, weil sie zu viel Angst hätten vor der militärischen und politischen Kraft des Bündnisses. Tatsächlich belegen die Ereignisse dieses Tages, dass es um diese angebliche Kraft nicht gut bestellt ist.

"Es geht um den Demokratisierungsprozess in der Ukraine und den dortigen Kampf gegen die Korruption", berichtet ZDF-Korrespondentin Ines Trams vom Nato-Gipfel in Vilnius.

12.07.2023 | 02:42 min

Politische Erpressung und schwammige Formulierungen

Zwar sind die Beitritte von Finnland und Schweden starke Signale, aber Brüche scheinen durch, wenn sich politische Erpressung für den türkischen Präsidenten Erdogan am Ende mit F-16-Kampfflugzeugen auszahlen könnte. Wenn sich US-Präsident Joe Biden im Zwiegespräch mit Erdogan auf die weitere Zusammenarbeit mit dem autoritären Amtskollegen freut.
Wenn der Ukraine für "irgendwann" eine Einladung und ein verkürztes Aufnahmeverfahren in Aussicht gestellt werden, sofern sie dafür Bedingungen erfüllt, die der Verbündete am Bosporus selbst oft genug nicht respektiert; und wenn Generalsekretär Stoltenberg da alles als starke und entschlossene Botschaft an die Ukraine anpreist.
Natürlich wird aus zu viel Selbstvertrauen schnell auch Selbstüberschätzung, die im Leichtsinn enden kann und schließlich in der Katastrophe. Aber in diese kann auch der Mangel an Selbstvertrauen führen. Eine klare Formulierung "Beitritt der Ukraine nach einem Ende des Krieges" hätte Selenskyj nicht als "absurd" abkanzeln können. Nun kann der ukrainische Präsident die Nato bei seinen Gipfelauftritten am Mittwoch schwach aussehen lassen, und der Mann in Moskau wird sich freuen.

In Kiew schauen die Menschen mit Hoffnung und Sorge auf den Nato-Gipfel. Eine große Mehrheit im Land will Teil der Nato werden. Ein Wunsch, der vorerst enttäuscht wurde.

11.07.2023 | 02:23 min

Biden-Rede mit Spannung erwartet

Deshalb könnte es am Abend noch einmal richtig spannend werden. Der amerikanische Präsident wird kurz vor seiner Abreise aus Litauen eine Rede halten, eine große, sagen uns seine Berater - selbst wenn sie vielleicht nicht lang sein wird. Das weckt Erinnerungen an den Auftritt von Joe Biden Ende März 2022 im Schloss von Warschau.

Kiews Weg in Richtung Nato-Mitgliedschaft

Seit mehr als 20 Jahren bemüht sich die Ukraine um eine Nato-Mitgliedschaft. Das transatlantische Militärbündnis unterstützt Kiew zwar im Kampf gegen Russland, hat eine spätere Beitrittseinladung für die Ukraine beim Gipfel in Litauen allerdings an Bedingungen geknüpft.

1994: Partnerschaft für den Frieden

Nach ihrer Unabhängigkeit 1991 tritt die Ukraine 1994 als einer der ersten ehemaligen Sowjetstaaten der sogenannten Partnerschaft für den Frieden bei. Mit dieser Initiative ermöglicht die Nato den ehemals kommunistischen Ländern eine militärische Zusammenarbeit. Noch im selben Jahr erklärt sich Kiew bereit, seine Atomwaffen aus der Sowjetzeit aufzugeben. Im Gegenzug garantieren die USA, Großbritannien und Russland der Ukraine Sicherheit und territoriale Integrität. 1997 vertiefen die Nato und die Ukraine ihre Kooperation mit der "Charta der besonderen Partnerschaft".

2002: Antrag auf Nato-Beitritt

Im Mai 2002 erklärt Präsident Leonid Kutschma, dass die Ukraine der Nato beitreten möchte. Das Bündnis fordert Kiew zu weiteren Reformen auf und bittet um Geduld. Der russische Staatschef Wladimir Putin billigt der Ukraine zwar das Recht zu, über ihre eigene Zukunft zu entscheiden, lehnt aber die Osterweiterung der Nato generell ab. Drei ehemalige Ostblockstaaten - Polen, Ungarn und Tschechien - sind bereits 1999 der Nato beigetreten, 2004 folgen sieben weitere.

2008: Deutschland und Frankreich gegen schnellen Beitritt

Auf ihrem Gipfeltreffen in Bukarest im April 2008 stellen die Staats- und Regierungschefs der Nato der Ukraine sowie Georgien erstmals einen Nato-Beitritt in Aussicht. "Wir haben heute vereinbart, dass diese Länder Mitglieder der Nato werden", heißt es in der Bukarester Gipfelerklärung. Während die USA einen konkreten Fahrplan für einen schnellen Beitritt fordern, verhindern dies Frankreich und Deutschland. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) fürchtet einen Konflikt mit Russland.

2014: Verstärkte Zusammenarbeit nach Annexion der Krim

Im März 2014 verurteilt Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen die "illegale und unrechtmäßige" Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland und stellt klar, dass das Bündnis dies nicht anerkennen werde. In der Folge intensiviert die Allianz ihre Zusammenarbeit mit der pro-europäischen ukrainischen Regierung. Im Sommer 2014 nimmt Kiew den 2010 von der damaligen pro-russischen Regierung unterbrochenen Beitrittsprozess wieder auf.

2022: Russische Invasion

Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine Ende Februar 2022 solidarisiert sich die Nato mit dem Land und die Mitgliedstaaten liefern in großem Umfang Waffen. Doch weigert sich die Allianz, Bodentruppen zu entsenden und eine Flugverbotszone durchzusetzen, um nicht zur Kriegspartei zu werden. Im September 2022 stellt Kiew einen Antrag auf beschleunigte Nato-Mitgliedschaft.

2023: Beitrittseinladung nur unter Bedingungen

Auf dem Gipfeltreffen in der litauischen Hauptstadt Vilnius bekräftigen die Staats- und Regierungschefs der Allianz ihre Zusage von 2008, dass die Ukraine in Zukunft Nato-Mitglied sein wird. Die von Präsident Wolodymyr Selenskyj erhoffte Beitrittseinladung sprechen sie jedoch nicht aus, weil die USA und Deutschland dagegen sind."Wir werden in der Lage sein, die Ukraine zu einem Bündnisbeitritt einzuladen, wenn die Verbündeten sich einig und Voraussetzungen erfüllt sind", heißt es in der Gipfelerklärung. Zu diesen Voraussetzungen zählt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ein Ende des Krieges sowie Fortschritte im Kampf gegen die Korruption und bei der Angleichung der ukrainischen Armee an Nato-Standards.

Quelle: AFP

Dabei zitierte Biden die Worte des Polen Karol Wojtyla als Papst im Oktober 1978: "Habt keine Angst." Biden weiter:
Im Angesicht eines grausamen und brutalen Regierungssystems war dies die Botschaft, die zum Ende der sowjetischen Unterdrückung in Mittel- und Osteuropa vor 30 Jahren beitrug.
Joe Biden, US-Präsident
"Es war eine Botschaft, die auch die Grausamkeit und Brutalität dieses ungerechten Krieges überwinden wird", so der US-Präsident im März letzten Jahres.
Damals jubelten die Menschen Joe Biden zu. In Vilnius wünschen sie sich nun ähnliche Worte - und dann Taten in einer starken Nato, die nicht zaudert und die in ihre Kraft vertraut. Hier jedenfalls haben die Menschen davor keine Angst.
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