: Russische Schiffe nahe der Explosionsorte

von David Gebhard, Julia Klaus und Felix Klauser
03.05.2023 | 04:00 Uhr
Auffällige Routen russischer Schiffe könnten mit den Nord-Stream-Anschlägen in Verbindungen stehen. Darauf deuten Funksprüche hin, die ein Ex-Marineoffizier mitgehört hat.
Der britische Ex-Geheimdinstler "James" hat den Funkverkehr russischer Schiffe abgehört. Er liefert neue Hinweise auf die Nord-Stream-Explosionen.Quelle: Morten Krüger
Es erinnert an ein hochkomplexes Kreuzworträtsel, an dem Ermittler, Fachleute und Journalisten seit Monaten tüfteln: Wer hat die Nord-Stream-Pipelines in die Luft gejagt? Nach und nach füllen sich die Leerstellen mit Erkenntnissen, was an der Ostseeoberfläche in den Tagen und Wochen vor den Explosionen so alles los war. Nun haben skandinavische Medien mit Hilfe eines britischen Ex-Geheimdienstlers womöglich einen neuen Buchstaben für das Lösungswort im Nord-Stream-Rätsel gefunden.
Eine dreiteilige Doku-Reihe vom dänischen (DR), norwegischen (NRK), schwedischen (SVT) und finnischen (YIe) öffentlich-rechtlichen Rundfunk liefert jedenfalls neue Hinweise zum Aufenthalt russischer Schiffe nahe den späteren Explosionsorten. Der DR hat die brisanten Funde vorab mit ZDF Frontal, dem "Spiegel" und dem "Standard" geteilt.

Die Sabotage an den Gas-Pipelines von Nord Stream in der Ostsee birgt immer wieder neuen politischen Sprengstoff. Jetzt schlägt eine verdächtige Segelyacht hohe Wellen.

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Abgefangene Funksprüche, ungewöhnliche Schiffsbewegungen

Auf die Spur der Schiffe brachte das skandinavische Reporterteam ein Mann, der "James" genannt werden will. James heißt eigentlich anders, aber er will sich schützen, denn er hat ein Hobby, das es in sich hat. Jahrzehntelang war er für die britische Marine und Geheimdienste tätig - spezialisiert darauf, die Kommunikation meist russischer Schiffe in der Ostsee abzuhören. Gegenüber den Journalisten hat er Nachweise vorgelegt, die das bestätigen.
Mittlerweile ist er in Rente, doch ruhig ist es um ihn nicht geworden, im Gegenteil. Von seiner Wohnküche aus lauscht James weiter, und die See antwortet. Die Daten seien offen zugänglich, sagt Fachmann James, man müsse nur genau wissen, wo man suchen muss. Er hört mit und notiert Funksprüche russischer Schiffe und U-Boote, in denen diese ihre Positionsdaten an Marinestützpunkte durchgeben. So auch im Juni 2022 - drei Monate vor der Nord-Stream-Sabotage.
Als ich diese Nachrichten empfing, wusste ich nicht, dass sie wichtig sein würden. Es ist eine große Geschichte. Es ist ein großes Rätsel. Viele Menschen versuchen herauszufinden, was passiert ist. Und ich denke, die Daten, die ich bekommen habe, sind ein Teil davon.
"James", ehemaliger britischer Geheimdienstmitarbeiter
Es geht um die Fahrt zweier russischer Schiffe. Von Russland aus kreuzten beide offenbar - mit zeitlichem Abstand - über der nördlichen Explosionsstelle der Nord-Stream-Röhren, die am 26. September Leck schlugen. Laut ihren Positionsdaten, im Abstand von mehreren Stunden gesendet und von James heimlich mitgehört, befanden sich die Schiffe nur wenige Kilometer von den nördlichen Explosionsorten entfernt, vermutlich kamen sie noch näher.

Verdächtige Routen russischer Marine-Schiffe

Das erste Schiff verlässt demnach am Morgen des 6. Juni den Hafen von Baltijsk, einem Stützpunkt der russischen Ostsee-Flotte bei Kaliningrad. Am Morgen des 7. Juni erreicht es eine Position östlich der dänischen Insel Bornholm – es hält sich rund drei Stunden im späteren nördlichen Explosionsgebiet auf – dann fährt es zurück gen Russland.

Das zweite Schiff – die russische "Sibirjakow" – ist zunächst im nordöstlichen Teil der Ostsee unterwegs, als sie plötzlich einen neuen Auftrag zu bekommen scheint. Sie kommuniziert nun mit einer unüblichen Kontaktstelle, mutmaßlich einem anderen russischen Schiff, nimmt am Abend des 13. Juni Kurs Richtung Bornholm und kreuzt laut den Positionsdaten am 14. und 15. Juni nahe der späteren nördlichen Explosionsstelle. Nach einigen Stunden verlässt sie das Gebiet, macht dann aber noch einmal kehrt und kommt zurück, bevor sie die Region um Bornholm endgültig verlässt.

Die beiden Schiffe halten sich lediglich nahe der nördlichen Detonationsstelle auf – zum südlichen Explosionsort fahren sie laut Positionsdaten nicht.

Mit welcher Mission die Schiffe in den Gewässern vor Bornholm unterwegs waren, ist nicht bekannt. Auf eine Anfrage von ZDF frontal reagierte die russische Regierung nicht. Laut James ist die Route aber absolut ungewöhnlich und erregte seinen Verdacht. In der skandinavischen TV-Dokumentation sagt er:
In den letzten zweieinhalb Jahren habe ich jeden Tag hier gesessen und die Baltische Flotte überwacht. Dies ist das einzige Mal, dass ich diese Typen in dieser Gegend beobachtet habe.
"James", ehemaliger britischer Geheimdienstmitarbeiter
Auch der britische Marine-Experte H.I. Sutton hält die Schiffsbewegungen für "ungewöhnlich und sehr verdächtig". Normalerweise würde die Sibirjakow sich nicht in diesem Gebiet aufhalten.
Das Recherche-Team hat die Positionsdaten von James mit Radar-Satellitenbildern des norwegischen Anbieters KSAT verglichen. Tatsächlich lassen sich im besagten Zeitraum zwei Schiffe in der unmittelbaren Umgebung der Detonationsstelle erkennen, die sich über längere Zeit offenbar kaum bewegen. Eins der Schiffe könnte der Größe nach die "Sibirjakow" sein, die Bilder sind allerdings nicht hochauflösend genug, um sie zweifelsfrei zu identifizieren.
Der nördliche Explosionsort der Nordstream-Pipelines - mit Satellitenbildern zweier russischer Schiffe. Aufgenommen im Juni 2022.Quelle: Torsten Høgh Rasmussen / DR / Putins Shadow War

Was könnten die Schiffe drei Monate vor den Explosionen getan haben?

Das Know-How für die Koordinierung von Unterwasser-Einsätzen gibt es an Bord der Sibirjakow allemal: Normalerweise begleitet sie U-Boote auf Tests in der Ostsee. Das Schiff habe die Fähigkeit, Unterwasser-Operationen durchzuführen, sagt der deutsche Marine-Experte Göran Swistek von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Es könne größere Lasten, auch Sprengstoff oder Mini-U-Boote, mit sich führen und aussetzen. Dass die Sibirjakow im Fall der Nord-Stream-Sabotage eine Rolle gespielt haben könnte, ist für Swistek durchaus vorstellbar.

Doku-Serie "Schattenkrieg"

Die dreiteilige Dokumentationsserie "Schattenkrieg" des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus Dänemark (DR), Norwegen (NRK), Schweden (SVT) und Finnland (Yle) deckt russische Spionagetätigkeiten auf – in der Ostsee, an Land und im Cyberbereich. Die Recherche des skandinavischen Reporterteams um Niels Fastrup ist auch zu hören: im sechsteiligen Podcast "Cold Front".
Der Zeitpunkt der möglichen Operation scheint ihm allerdings ungünstig. Denn zeitgleich, zwischen dem 5. und 17. Juni 2022, fand das groß angelegte Nato-Manöver "Baltops" statt. Swistek war in früheren Jahren als Fregattenkapitän Teil der regelmäßig stattfindenden Übung. Seiner Erfahrung nach schicke Russland regelmäßig Schiffe ins Übungsgebiet, um die Einheiten auszukundschaften. Die Ostsee, sagt Swistek, werde dann besonders gut überwacht. Das Risiko, beim Anbringen von Sprengstoff aufzufallen, sei so besonders hoch.

"Das kann man nicht mit einer kleinen Gruppe, so wie das jetzt gerade in den Medien dargestellt wird, organisieren", so Göran Swistek, Experte für maritime Sicherheit.

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Eher wäre es wohl ums Auskundschaften gegangen, um "Daten über den Unterwasserbereich zu sammeln", glaubt Swistek. Die "Sibirjakow" sei eigentlich als hydrographisches Forschungsschiff gebaut, habe Sonar-Fähigkeiten für ein Unterwasser-Lagebild, so Swistek, "da kann man jede kleine Unebenheit, jeden Kühlschrank, jeden Kanister oder eben eine Pipeline wunderbar erkennen und speichern, wenn man die Bilder zu einem späteren Zeitpunkt noch nutzen will".

Nord-Stream-Krimi: Viele Theorien, keine klare Antwort

Neben den zwei russischen Schiffen im Juni hatte eine Recherche von "T-Online" zuletzt den Fokus auf mehrere russische Schiffe gelenkt, die kurz vor den Detonationen in der Nähe des Tatorts gekreuzt haben sollen. Dass die "Sibirjakow" Teil einer größeren Operation war, diese lediglich vorbereitet hat, während andere Schiffe später die Operation final durchführten, hält Experte Swistek für vorstellbar.
Dänische Behörden hatten bestätigt, dass vier Tage vor den Anschlägen russische Schiffe fotografiert worden seien. Eines der Schiffe - die "SB-123" - konnte durch den britischen Ex-Geheimdienstler James identifiziert werden.

Der Fall "Andromeda"

Quelle: ZDF/Frontal
Abseits dieser Hinweise, die auf Russland deuten könnten, gibt es auch mögliche Links in die Ukraine. Eine gemeinsame Recherche von ARD und "Zeit" hatte im März dazu geführt, dass das Schiff "Andromeda" im Nord-Stream-Rätsel in den Fokus rückte. Die These: Möglicherweise könnte eine proukrainische Gruppe mit der Segeljacht und zwei Tauchern die Anschläge verübt haben.

Der Generalbundesanwalt bestätigte Ermittlungen, das Bundeskriminalamt fand an Bord Spuren von Sprengstoff. Auch ZDF frontal hatte die "Andromeda" auf Rügen gefunden und mit Experten über die Wahrscheinlichkeit der Segelyacht-Theorie gesprochen. Der Tenor: Sprengstoffbeschaffung, Transport, Tauchgang – einiges spricht dagegen, dass der Anschlag allein mit einem Segelboot ausgeführt werden konnte. Auch eine False-Flag-Aktion zur Ablenkung gilt als möglich.

Die "Hersh"-Theorie

Zuvor hatte auch ein Artikel des US-Journalisten Seymour Hersh hohe Wellen geschlagen – er hatte die USA als Drahtzieher hinter den Anschlägen vermutet. Allerdings gibt es in dem Hersh-Bericht zahlreiche Ungereimtheiten. Lediglich eine anonyme Quelle wird als Grundlage angegeben.
Was passierte an den Nord-Stream-Pipelines - noch brütet die Welt über diesem Rätsel. Ständig neue Spuren, neue Hinweise, doch wie beim echten Kreuzworträtsel hilft nicht jede ausgeknobelte Stelle beim Finden des Lösungsworts. Hat James einen neuen Buchstaben geliefert - beim Schiffe verorten in seiner Wohnküche? Fest steht: Auch sieben Monate nach der Sabotage bleibt das Nord-Stream-Rätsel voller Leerstellen.
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