: Warum Moskaus Winteroffensive wenig erreicht

von Christian Mölling, András Rácz
05.04.2023 | 21:12 Uhr
Seit mehr als zwei Monaten läuft Russlands Winteroffensive, aber sie kommt nicht voran. Die russische Armee weist hohe Verluste an Mensch und Material auf. Was sind die Gründe?
Auch der Widerstand der ukrainischen Armee bremst die russische Winteroffensive aus. (Archiv)Quelle: Reuters
Die Ende Januar 2023 gestartete Winteroffensive der Russischen Föderation in der Ukraine ist inzwischen eindeutig zum Stillstand gekommen, ohne größere Ergebnisse zu erzielen. Die Gründe für das Scheitern Russlands sind vielfältig.

Kein Schwerpunkt der Offensive Russlands

Erstens fehlte der Offensive offensichtlich ein klarer Schwerpunkt. Die russischen Streitkräfte versuchten im Grunde, entlang der gesamten Frontlinie anzugreifen: in Richtung Kupjansk und entlang der Svatove-Kreminna-Linie an der Luhansk-Front, in der Region Donezk in Richtung Bachmut, Avdiivka und sogar Vuhledar im Süden. Diese Aktivitäten liefen oftmals parallel. Im Ergebnis fehlte so die entscheidende Konzentration der Kräfte und der Feuerkraft.
Der Grund für die mangelnde Konzentration ist höchstwahrscheinlich auf den politischen Druck des Kremls zurückzuführen. Soweit sich aus offenen Quellen rekonstruieren lässt, erwartet die russische Führungsspitze, dass das Militär nicht nur die gesamte Region Donezk einnimmt (was an sich schon eine kaum lösbare Aufgabe ist), sondern auch Gebiete in der Region Charkiw zurückerobert.
Mit Soledar, einer kleinen Bergbaustadt, zählte die größte Siedlung, die im Rahmen der Offensive eingenommen werden konnte, gerade einmal 10.000 Einwohner. Auch Bachmut konnte nicht eingenommen werden.

Niedriges Niveau an taktischen und operativen Fähigkeiten

Zweitens zeigten die russischen Streitkräfte ein überraschend niedriges Niveau an taktischen und operativen Fähigkeiten. Offensichtlich wurde dies vor allem um Bachmut, wo die Russen immer wieder befestigte ukrainische Stellungen frontal angriffen, was zu äußerst schweren Verlusten führte.

Dr. Christian Mölling ...

Quelle: DGAP
... ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und leitet dort das Programm Sicherheit, Verteidigung und Rüstung. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.

Dr. András Rácz ...

Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.
Obwohl die ukrainischen Streitkräfte ebenfalls hohe Verluste hinnehmen mussten, gelang es ihnen, die Stadt während der gesamten Offensive zu halten; insgesamt dauert die Belagerung von Bachmut nun schon mehr als neun Monate an.
In Vuhledar wurden die angreifenden russischen Truppen durch ukrainische Artillerie und Minenfelder dezimiert; offenbar wurden die vorrückenden russischen Truppen kaum darin geschult, wie man einem verminten Gebiet begegnen kann. Außerdem gelang es Russland weder die mobilisierten Reservisten noch die in die Wagner-Gruppe "rekrutierten" Gefangenen zu kohärenten, gut funktionierenden Einheiten zu formen.

Brüche in der russischen Kommandostruktur

Drittens wurde die russische Offensive durch eine Reihe von Führungswechseln beeinträchtigt. General Sergej Surowikin, der bisherige Oberbefehlshaber der russischen Operation in der Ukraine, wurde am 12. Januar, also etwa zwei Wochen vor Beginn der Offensive, durch Generalstabschef Waleri Gerassimow ersetzt. Mit anderen Worten: Die Offensive wurde nicht von denjenigen geführt, die sie geplant hatten.
Außerdem wurde der Leiter der Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, durch dieselbe personelle Umstrukturierung erheblich geschwächt, da er nur zu Surowikin, nicht aber zu Gerassimow enge Beziehungen hatte. Seit Gerassimow das Kommando übernommen hatte, wurde die Wagner-Gruppe bei der Versorgung, insbesondere mit Munition, immer mehr ins Abseits gedrängt.

Mangel an Personal und Material

Viertens: Was das Material anbelangt, so geht Russland allmählich die Artilleriemunition aus. Während der Winteroffensive konnte die russische Artillerie durchschnittlich 18.000 bis 20.000 Granaten pro Tag abfeuern. Das ist zwar immer noch dreimal mehr als die ukrainischen Truppen zur Verfügung haben, aber viel weniger als die 50.000 bis 60.000, manchmal 80.000 Granaten, die die russische Armee im letzten Sommer einsetzte.
Zudem hatte Russland - sowohl die reguläre Armee als auch die Wagner-Kämpfer - während der Offensive äußerst schwere Verluste zu beklagen. Die Wagner-Gruppe verlor etwa 80 Prozent der rekrutierten Gefangenen. Einige reguläre russische Einheiten wurden buchstäblich aufgerieben. Das bekannteste Beispiel ist die 155. Marine-Infanterie-Brigade des östlichen Militärbezirks, die so oft zerstört und wiederaufgebaut wurde, dass sie praktisch nicht mehr existierte.
Sobald die Ukraine ihren lang erwarteten Gegenangriff startet, ist es daher sehr wahrscheinlich, dass das ukrainische Militär in der Lage sein wird, die Dynamik der Kämpfe in den darauffolgenden Monaten zu dominieren.
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