: Deutschland verliert seine Natur

von Birgit Hermes
07.12.2022 | 05:00 Uhr
Während dieser Text entsteht, stirbt möglicherweise gerade eine Pflanzen- oder Tierart aus. Oder ein Lebensraum wird in Ackerfläche umgewandelt, vielleicht unter Asphalt begraben.
Die Artenvielfalt in Deutschland ist bedroht. Die Gründe dafür sind vielfältig. Auch erneuerbare Energien zählen dazu.Quelle: 18-2517309
Dieses Szenario spielt sich nicht nur in den artenreichen Ökosystemen tropischer Länder ab, sondern auch hierzulande. Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) beschreibt den Zustand der Artenvielfalt in Deutschland als alarmierend.
Aktuell finden sich mehr als 37 Prozent der bei uns in Deutschland vorkommenden Arten auf der Roten Liste und gelten damit in ihrem Bestand als gefährdet. Nach Darstellungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina sind - selbst in Naturschutzgebieten - vor allem Arten der Agrarlandschaften betroffen.

Der Biodiversitätsgipfel in Montreal werde ein Erfolg, wenn die "internationale Staatengemeinschaft verbindliche Ziele für den globalen Naturschutz" finde, so die Bundesumweltministerin Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen.

02.12.2022 | 05:48 min
So seien beispielsweise die für diese Landschaften typischen Vogelarten seit 1990 im Mittel um ca. 30 Prozent zurückgegangen. Bei einigen Vogelarten liegt der Schwund deutlich darüber.
Der Verlust der Biodiversität ist schlimmer einzustufen als der Klimawandel.
Prof. Dr. J. Wolfgang Wägele, Direktor des Zoologischen Forschungsmuseum Alexander Koenig
Arten, die einmal verlorengegangen seien, seien nicht mehr rückholbar, sagt J. Wolfgang Wägele, Direktor des Zoologischen Forschungsmuseums Alexander Koenig.

Ursachen des Verlusts an Artenvielfalt

Gründe dafür sind artenarme Ackerbaukulturen, häufiger und flächendeckender Einsatz von Pflanzenschutz- und Düngemitteln, verbunden mit dem Verschwinden von Wiesen, Brachen und Flächen, auf denen Bäume und Hecken wachsen können. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, allein die auf Produktionssteigerung ausgelegte Landwirtschaft für den Verlust an Biodiversität verantwortlich zu machen.

Warum ist die Vielfalt der Natur wichtig?

Auch wenn die meisten Arten noch nicht auf ihren unmittelbaren Nutzen für die Menschheit hin untersucht sind, ist klar: Der Mensch braucht die Natur mit ihrer Artenvielfalt zum Überleben. Denn sie liefert sauberes Wasser, Nahrung und die Luft zum Atmen. Sie versorgt uns mit Bau- und Rohstoffen und Medizin, wie zum Beispiel Antibiotika.

Funktionierende Ökosysteme sind wehrhaft gegenüber Umweltveränderungen, wie dem Klimawandel. Sie sorgen für die Verbreitung von Saatgut und die Bestäubung von Pflanzen - weltweit hängen drei Viertel aller Nahrungspflanzen von der Bestäubung von Tieren ab. Sie bilden Böden und schützen vor Erosion.

Auch um dem Klimawandel zu begegnen, etwa um CO2 zu binden, braucht es eine intakte Natur. Und letztlich ist sie auch wichtig für die psychische Gesundheit, wie verschiedene Studien zeigen.

Denn wesentlicher Faktor des Artensterbens ist auch die zunehmende Fragmentierung und damit einhergehende Verkleinerung von Lebensräumen, wie sie durch Straßen- und Siedlungsbau geschieht. Unbebaute und unzerschnittene Flächen werden immer seltener. Hinzu kommen Verschmutzungen und invasive Arten, die einheimische Tiere und Pflanzen verdrängen. Bislang räumen Wissenschaftler*innen dem Klimawandel eine untergeordnete Rolle ein. In Zukunft werde seine Bedeutung aber zunehmen.

Auch erneuerbare Energien schränken Artenvielfalt ein

Um die Auswirkungen des Klimawandels zu mindern, setzt die Regierung auf erneuerbare Energien. Aber auch sie fordern ihren Tribut: Wasserkraftwerke verhindern nicht nur, dass sich Fische und andere Wasserlebewesen frei bewegen können. Sie stören auch den natürlichen Transport von Sand und Steinen - den sogenannte Geschiebetransport - mit negativen Folgen für den Gewässerlebensraum, den Hochwasserschutz und das Grundwasser. 
Windkraftanlagen stellen eine Gefahr für Vögel und Fledermäuse dar. Die für ihre Errichtung und den Betrieb nötige Infrastruktur fragmentiert und lichtet Wälder. Nicht zuletzt schadet auch Bioenergie aus eigens dafür angelegten Monokulturen von etwa Mais, Raps und Zuckerrüben der Artenvielfalt und führt zu einer Verdrängung der Nahrungsmittelproduktion auf andere Flächen.

Wege zu mehr Vielfalt

Die Wissenschaftler*innen der Leopoldina empfehlen, die Agrar- und die Umweltpolitik stärker zu verzahnen. Vor allem sollten Subventionszahlungen an die erbrachten Ökosystemleistungen gekoppelt werden, um eine naturfreundliche Landwirtschaft auch wirtschaftlich attraktiv zu gestalten.
Das bestehende Schutzgebietssystem ist auf Lücken zu überprüfen und weiterzuentwickeln.
Bundesamt für Naturschutz
Denn anders als der Name suggeriert, sind Schutzgebiete nicht zwingend von der Nutzung ausgenommen. Außerdem sollten Lebensräume vernetzt, Flüsse wieder durchgängig gemacht und der Anteil nutzungsfreier Wälder erhöht werden.
Es sind indes nicht die Ideen, die fehlen. Vielmehr hapert es an der Umsetzung. Im Dezember 2021 verklagte die EU-Kommission Deutschland vor dem Gerichtshof der EU wegen unzureichenden Schutzes blütenreicher Wiesen in Natura-2.000-Gebieten und dem Verstoß gegen die Habitat-Richtlinie (RL 92/43/EWG). Diese Richtlinie ist eines der wichtigsten Instrumente der EU zum Schutz der biologischen Vielfalt.

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