: Auch Kreml-Gegner können kolonialistisch sein

von Thomas Dudek
08.01.2023 | 13:14 Uhr
Sie sind gegen Putin und den Krieg in der Ukraine. Doch auch russische Oppositionelle haben oft einen kolonialen Blick auf ihre Nachbarn. Es ist ein spätes Erbe der Sowjetunion.
Trotz ihrer Ablehnung des Ukraine-Kriegs haben einige Kreml-Oppositionelle einen kolonialen Blick auf die Nachbarstaaten Russlands. (Archivbild)Quelle: AP
Der russische Fernsehsender "Doschd" war dem Kreml über Jahre ein Dorn im Auge. Bereits 2014 verlor der oppositionelle Kanal seine Kabel-Lizenz und war nur noch über das Internet erreichbar. Am 3. März vergangenen Jahres, kaum zwei Wochen nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, folgte für "Doschd", so wie für andere oppositionelle Medien, das endgültige Aus.
Doch Anfang Dezember wurden in Lettland, wo ein Teil der aus Russland geflohenen Redaktion eine neue Heimat fand, Zweifel an der Anti-Kriegs-Haltung von "Doschd laut". "Wir hoffen, dass wir vielen Soldaten helfen konnten, unter anderem mit der Ausrüstung und der Basisausstattung an der Front", sagte am 1. Dezember der Moderator Alexej Korosteljow über die ab September mobilisierten russischen Soldaten.

Russische Opposition wird auch im Ausland kritisch beäugt

Da der Sender den lettischen Behörden bereits zuvor unter anderem wegen einer eingeblendeten Landkarte negativ aufgefallen war, auf der die annektierte Krim als Teil Russlands gekennzeichnet wurde, wurde dem Kanal in dem baltischen Land die Sendelizenz entzogen. Auch die vorher bekanntgegebene Trennung des Senders von dem Moderator Korosteljow konnte nichts an der durchaus fragwürdigen Entscheidung der lettischen Behörden ändern.
Was aber auch an der innenpolitischen Situation in dem baltischen Land liegt. Da sich in Lettland während der Sowjetzeit viele Russen ansiedelten, die seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 eine große und zum Teil misstrauisch beäugte Minderheit darstellen, steht man den in den letzten Monaten angekommenen russischen Emigranten skeptisch gegenüber.
Und der Vorfall um den Fernsehsender "Doschd" offenbart einen der wichtigsten Gründe für das Misstrauen gegenüber der russischen Opposition. Nicht nur in Lettland und dem gesamten Baltikum, sondern auch in der Ukraine, Belarus und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion.

Experte: Keine organisierte Opposition in Russland mehr

Dass diese Wladimir Putin gegenüber kritisch stehe, wird zwar nicht infrage gestellt, doch immer wieder gibt es den Vorwurf, auch sie betrachte die Nachbarstaaten mit einem kolonialistischen Blick.
"Zuerst muss man klarstellen, dass es nicht die eine Opposition in Russland gibt. Das sind viele unterschiedliche Menschen und Gruppen", sagt der Russland-Experte Jens Siegert.
Was man aber feststellen kann, dass der Blick auch vieler liberaler Russen gegenüber den Nachbarstaaten und Völkern innerhalb der Russischen Föderation tatsächlich imperial geprägt ist.
Jens Siegert, Russland-Experte
"Und auch für viele liberale Russen sind die Ukraine und Belarus nicht wirklich Ausland. Das mag sich jetzt zu ändern beginnen", fügt der langjährige Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung an.

Dialog zwischen Russen und Bürgern aus Nachbarstaaten oft erschwert

Es ist der russische Blick, der einen Dialog zwischen Russen und ihren Nachbarn oft erschwert. "Vor einigen Jahren, bereits nach der Annexion der Krim, nahm ich an einem Diskussionsforum teil, bei dem Russen und Ukrainer im Beisein von Polen und Deutschen miteinander ins Gespräch kommen sollten. Und obwohl sich die russischen und ukrainischen Teilnehmer zum Teil seit langer Zeit kannten, verlief die Diskussion schwierig. Die Ukrainer beklagten den Paternalismus der russischen Teilnehmer selbst jetzt noch", erinnert sich Siegert.
Ein sehr bekanntes Beispiel für einen russischen Oppositionellen, dem diesbezüglich mit Misstrauen begegnet wird, ist Alexej Nawalny.

Nawalny eckte in der Vergangenheit mit kremlnahen Aussagen an

Dazu hat der Anti-Korruptions-Aktivist, der im Februar 2021 zu einer weiteren mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, selbst beigetragen. Während des Georgien-Krieges 2008 solidarisierte er sich nicht nur mit den russischen Soldaten. Anstatt "Grusiny", russisch für Georgier, bezeichnete er diese als "Grysuni", als Nagetiere.
Bezüglich der Krim-Annexion äußerte sich Nawalny wiederum zweideutig. In einem Gastbeitrag für die "New York Times" im März 2014 kritisierte er zwar Putin für die Schritt. Doch im Gegenzug plädierte er nicht für die Rückgabe der Krim an die Ukraine, sondern für ein weiteres, aber unabhängiges Referendum auf der Halbinsel.

Kolonialismus als Erbe der sowjetischen Schulbildung

"Der koloniale Blick ist ein Erbe der sowjetischen Schulbildung", erklärt der russische Journalist Maxim Kurnikow. Der ehemalige stellvertretende Chefredakteur des liberalen Radiosenders Echo Moskwy, der im Berliner Exil das Onlineradio "Echofm.online" betreibt, sagt:
Der Geschichtsunterricht, die Schullektüren beeinflussen auch die liberalen Eliten bis heute.
Maxim Kurnikow, russischer Journalist

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Quelle: ZDF
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Wie arbeitet das Aktionsbündnis?

Das Aktionsbündnis Katastrophenhilfe hilft Menschen in der Ukraine und auf der Flucht. Gemeinsam sorgen die Organisationen Caritas international, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie Katastrophenhilfe und UNICEF Deutschland für Unterkünfte und Waschmöglichkeiten, für Nahrungsmittel, Kleidung, Medikamente und andere Dinge des täglichen Bedarfs. Auch psychosoziale Hilfe für Kinder und traumatisierte Erwachsene ist ein wichtiger Bestandteil des Hilfsangebots.
In seinen Beiträgen thematisiert Kurnikow regelmäßig den oft unbewussten kolonialen Blick russischer Liberaler, um diese so für das Thema zu sensibilisieren.
Auch für Jens Siegert ist der koloniale Blick liberaler Russen ein Erbe der Sowjetunion, er verweist dabei aber auf einen anderen Aspekt. "Diese hatte ein wichtiges Zentrum und das war Moskau. Alles andere war Provinz. Das wirkt bis heute nach".
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