: Wer folgt auf Jens Stoltenberg?

von Florian Neuhann, Brüssel
05.04.2023 | 20:00 Uhr
Es ist das Tuschelthema der Nato-Sitzung in Brüssel: Das Bündnis braucht im Sommer einen neuen Generalsekretär. Wer folgt auf den Norweger Jens Stoltenberg?
Jens Stoltenberg wollte sein Amt als Nato-Generalsekretär eigentlich bereits im vergangenen Jahr ruhen lassen.Quelle: picture alliance / AA
Spätestens in diesem Krieg ist Jens Stoltenberg so etwas geworden wie die Stimme des Westens. Der Norweger, der seit achteinhalb Jahren an der Spitze der Nato steht, beherrscht ein Handwerk perfekt: Nämlich stets dieselbe Botschaft auszusenden. Und sie wirken zu lassen, als wäre sie in diesem Moment ganz neu.

Getuschel beim Nato-Außenministertreffen in Brüssel

Als er im letzten Jahr aufhören wollte, um in seiner Heimat Norwegen Chef der Zentralbank zu werden, kam Russlands Krieg dazwischen. Die Nato-Mitgliedsstaaten baten ihn zu bleiben. Also hängte der 64-Jährige ein Jahr dran.
Doch im September will er sein Amt nun wirklich aufgeben - und die Nato braucht Ersatz. Und so ist diese Frage das Tuschelthema auf den Fluren, auch auf dem Außenministertreffen in Brüssel am heutigen Mittwoch.

Wer kommt in Frage - und wer nicht?

Mögliche Kandidaten für Stoltenberg-Nachfolge

Die Amtszeit von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg läuft Ende September aus. In der Frage, wer die Organisation leitet, einigen sich die mit Finnland nun 31 Mitgliedsstaaten des Bündnisses in der Regel hinter den Kulissen. Wer könnte künftig das Verteidigungsbündnis leiten? Mögliche Kandidaten und Kandidatinnen und ihre Chancen - ein Überblick:

Ursula von der Leyen

Quelle: reuters
Ende letzter Woche landet die britische Boulevardzeitung "The Sun" einen vermeintlichen Scoop: die EU-Kommissionspräsidentin wolle Nato-Chefin werden. Die EU-Kommission selbst dementiert.

Und weder in ihrer eigenen Parteienfamilie noch unter Nato-Diplomaten wichtiger Mitgliedsstaaten findet sich jemand, der dem Gerücht irgendetwas abgewinnen könnte. Von der Leyen müsste schließlich ihre Amtszeit früher beenden, um im September auf ein formal weniger mächtiges Amt zu wechseln.

Wahrscheinlichkeit: extrem gering.

Kaja Kallas

Quelle: Reuters
Sie wurde von einem Magazin mal zur "neuen Eisernen Lady" ausgerufen, in Anlehnung an die ehemalige britische Premierministerin Maggie Thatcher: Kaja Kallas, 45 Jahre, gerade wiedergewählt als Ministerpräsidentin Estlands.

In Brüssel fällt sie auf durch klare Kante gegen Russland, und zuletzt brachte sie sich recht offensiv selbst ins Spiel: Estland sei seit 19 Jahren EU- und Nato-Mitglied, natürlich müsse das Land auf den Radar für Top-Jobs, so Kallas gegenüber "Politico".

Doch wollen alle in der Nato eine Falkin wie Kallas, die meist härtere Worte gegen Russland findet als der Rest, an ihrer Spitze? Es wäre ein Statement, das nicht alle senden wollen.

Zumal, wie ein hochrangiger Diplomat aus einem westlichen Mitgliedsland erinnert, gerade erst die Amtszeit des stellvertretenden rumänischen Generalsekretärs Mircea Geoană verlängert wurde. „Das würde eine weitere Osteuropäerin an der Spitze der Nato im Prinzip schwierig machen“, so der Diplomat.

Wahrscheinlichkeit: gering, aber nicht ausgeschlossen.

Ben Wallace

Quelle: AP
Und noch jemand, der sich offenbar selbst ins Spiel gebracht hat: der aktuelle britische Verteidigungsminister Ben Wallace. Im Februar sagte er gegenüber TimesRadio: er liebe seine aktuelle Aufgabe, aber natürlich sei der Posten als Nato-Generalsekretär "eine großartige Aufgabe". Es ist eine Aussage, die in Brüssel sehr aufmerksam registriert wurde.

Für ihn spricht, dass für Großbritannien die Nato - nach dem Austritt aus der EU - deutlich wichtiger geworden ist. Man hat ja sonst nichts anderes mehr. Ob sich selbst ausrufende Kandidaten allerdings so gute Chancen haben, steht auf einem anderen Blatt.

Wahrscheinlichkeit: Immerhin denkbar.

Mark Rutte

Quelle: phoenix
Beinahe immer, wenn es um einen Top-Job auf internationaler Ebene geht, wird sein Name genannt: Mark Rutte, Langzeit-Ministerpräsident der Niederlande.

Innenpolitisch ist Rutte nach den jüngsten Provinzwahlen und dem Aufstand der Bauern angeschlagen - vielleicht wäre der Nato-Job da eine Exit-Strategie, die ihm gelegen kommt? Außenpolitisch dagegen hat er ein klares Profil, etwa in eindeutiger Unterstützung der Ukraine, das gut zu dem Job passen würde.

Regelmäßig berichten niederländische Medien von entsprechenden Gerüchten, die Rutte selbst stets dementiert. Nach seiner Amtszeit wolle er eine Aufgabe im Bildungsbereich übernehmen, sagt Rutte regelmäßig.

Wahrscheinlichkeit: Seine Dementi sollte man nicht zu ernst nehmen.

Noch einmal Stoltenberg

Quelle: phoenix
Es gibt auch Nato-Diplomaten, die eine Hoffnung nicht aufgeben wollen: dass Jens Stoltenberg sich noch einmal zum Bleiben überreden lässt. "Warten Sie mal ab", sagt ein Diplomat, "wenn der US-Präsident fragt, kannst Du schlecht Nein sagen."

Allerdings hat Stoltenberg nun mehrfach klargestellt, dass jetzt aber wirklich nach Norwegen zurück will. Und auch wenn nicht alle mit seiner offensiven Amtsführung glücklich sind - viele loben, wie er die Nato in dieser Krise zusammengehalten hat.

Wahrscheinlichkeit: Es wäre eine Notlösung. Aber eine, mit der sich recht viele anfreunden könnten.

Aber braucht die Nato nach 74 Jahren nicht vielleicht mal etwas Abwechslung - die erste Generalsekretärin? Noch vor einem Jahr galt die damalige belgische Außenministerin Sophie Wilmès als Kandidatin - bis sie sich im April zumindest vorübergehend aus der Politik zurückzog, um Zeit für ihren schwerkranken Mann zu haben. Ist denkbar, dass sie auf die Bühne zurückkehrt?
Trotzdem gilt auch in der Nato die alte Regel: Personen, die zuerst genannt werden, schaffen es am Ende nicht auf den Posten. Zumal die Nato-Staaten sich einstimmig auf den Chef oder die Chefin einigen müssen. Das lässt Raum für alle Arten von Deals. Und für Last-Minute-Vetos – wie es die Türkei 2009 bei der Wahl von Stoltenberg-Vorgänger Anders Fogh Rasmussen einige Zeit versucht hatte. Das Rennen hat gerade erst begonnen.

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