: Ukraine enttäuscht von Nato-Staaten

von Thomas Dudek
12.07.2023 | 10:12 Uhr
Kiew hat es erwartet, zeigt sich aber dennoch enttäuscht über die ausgebliebene Nato-Beitrittseinladung. Geschuldet ist dies auch einer neuen pro-Nato-Stimmung in der Ukraine.
Der ukrainische Präsident Selenskyj hat das Fehlen eines Zeitplans für einen Beitritt der Ukraine zur Nato kritisiert. Quelle: AP
Bereits am Vorabend des am Dienstag offiziell begonnenen Nato-Gipfels in der litauischen Hauptstadt Vilnius hatte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg keine Scheu vor Superlativen.
Das ist ein historischer Schritt, der die Nato-Verbündeten stärker und sicherer macht.
Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär
Das verkündete der ehemalige norwegische Ministerpräsident über die Zustimmung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, den Nato-Beitritt Schwedens nicht mehr blockieren zu wollen.

Beim Nato-Gipfel in Litauen berät der ukrainische Präsident Selenskyj mit den Staats- und Regierungschefs des Bündnisses. Er hofft auf weitere Hilfe und Sicherheitsgarantien.

12.07.2023 | 01:30 min

Kein Zeitplan angekündigt

Weniger Superlative gab es von Stoltenberg hingegen bezüglich der Ukraine. Dieser sprach zwar von einem "großen Schritt", doch die von dem osteuropäischen Land erhoffte Einladung auf eine Nato-Mitgliedschaft blieb aus.
Die Zukunft der Ukraine liegt in der Nato.
Gipfel-Kommuniqué von Vilnius
So steht es zwar im Gipfel-Kommuniqué, ohne jedoch in Aussicht zu stellen, wann diese Zukunft für das Land zur Realität wird.

Am zweiten Tag des Nato-Gipfels geht es vor allem um die viel diskutierten Sicherheitsgarantien für die Ukraine. Eine Einschätzung von ZDF-Korrespondentin Ines Trams in Vilnius.

12.07.2023 | 01:21 min
So müsse die Ukraine zuerst weitere Reformen im Bereich der Demokratie und des Verteidigungssektors durchführen. "Wir werden in der Lage sein, die Ukraine zum Beitritt zum Bündnis einzuladen, wenn die Bündnispartner zustimmen und die Bedingungen erfüllt sind", heißt es in der Erklärung weiter.

Hoffnung, Erwartung und Enttäuschung

Es ist eine Entscheidung, die in der Ukraine durchaus erwartet wurde. Die Diskussionen innerhalb des Bündnisses zwischen den Befürwortern einer klaren Nato-Perspektive - die vor allem in den ostmitteleuropäischen Mitgliedsstaaten zu finden sind - und den Skeptikern wie den USA und Deutschland, bekam man in Kiew ebenso mit, wie die im Vorfeld des Gipfels getätigten Aussagen von US-Präsident Joe Biden über mögliche Sicherheitsgarantien für die Ukraine bis hin zu deren möglichem Nato-Beitritt.

"Hier herrscht Enttäuschung, aber es war eine Enttäuschung mit Ansage", berichtet ZDF-Reporter Dara Hassanzadeh aus Kiew zur fehlenden Beitrittseinladung beim Nato-Gipfel.

12.07.2023 | 02:12 min
Auch die in den letzten Tagen an die Presse durchgesickerten Informationen ließen einiges erahnen. "Grünes Licht für Schweden, gelbes Licht für die Ukraine", titelte dementsprechend bereits am Dienstagmorgen das Nachrichtenportal "Evropejska Pravda". "Eine kluge Nato würde den Beitritt der Ukraine anstreben", titelte wiederum "Kyiv Independent" über einem Kommentar, der ebenfalls einige Stunden vor der offiziellen Erklärung der Nato veröffentlicht wurde und in dem die Journalisten des bekannten englischsprachigen Nachrichtenportals kein Geheimnis aus ihrer Enttäuschung machen.

Langwierige Diskussionen um Waffenlieferungen

Dies nicht nur über den Gipfel in Vilnius, sondern auch über die oft mit langen Diskussionen verbundenen westlichen Waffenlieferungen. "Es scheint, dass der Westen die Forderungen der Ukraine als unzumutbare Forderungen behandelt. Tatsächlich zeigt die Ukraine ihren Verbündeten lediglich eine Liste der wichtigsten Werkzeuge, die sie zum Überleben braucht – und durch ihr Überleben den Westen schützt", heißt es unter anderem in dem Text.

Der tschechische Außenminister Jan Lipavský sieht in einem möglichen Nato-Beitritt der Ukraine keine weitere Eskalation. Er werde stattdessen "Sicherheit nach Osteuropa bringen."

11.07.2023 | 05:29 min
Doch nicht nur die ukrainische Presse zeigte ihre Enttäuschung, sondern auch Präsident Wolodomyr Selenskyj. "Es sieht so aus, als ob es keine Bereitschaft gibt, die Ukraine in die Nato einzuladen oder sie zum Mitglied der Allianz zu machen", verkündete dieser noch während seiner Reise nach Vilnius in den sozialen Netzwerken.
Das bedeutet, dass es weiterhin möglich ist, über die Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato zu verhandeln - mit Russland. Und für Russland ist dies eine Motivation, seinen Terror auch in Zukunft fortzusetzen.
Wolodomyr Selenskyj, Präsident der Ukraine

Kiews Weg in Richtung Nato-Mitgliedschaft

Seit mehr als 20 Jahren bemüht sich die Ukraine um eine Nato-Mitgliedschaft. Das transatlantische Militärbündnis unterstützt Kiew zwar im Kampf gegen Russland, hat eine spätere Beitrittseinladung für die Ukraine beim Gipfel in Litauen allerdings an Bedingungen geknüpft.

1994: Partnerschaft für den Frieden

Nach ihrer Unabhängigkeit 1991 tritt die Ukraine 1994 als einer der ersten ehemaligen Sowjetstaaten der sogenannten Partnerschaft für den Frieden bei. Mit dieser Initiative ermöglicht die Nato den ehemals kommunistischen Ländern eine militärische Zusammenarbeit. Noch im selben Jahr erklärt sich Kiew bereit, seine Atomwaffen aus der Sowjetzeit aufzugeben. Im Gegenzug garantieren die USA, Großbritannien und Russland der Ukraine Sicherheit und territoriale Integrität. 1997 vertiefen die Nato und die Ukraine ihre Kooperation mit der "Charta der besonderen Partnerschaft".

2002: Antrag auf Nato-Beitritt

Im Mai 2002 erklärt Präsident Leonid Kutschma, dass die Ukraine der Nato beitreten möchte. Das Bündnis fordert Kiew zu weiteren Reformen auf und bittet um Geduld. Der russische Staatschef Wladimir Putin billigt der Ukraine zwar das Recht zu, über ihre eigene Zukunft zu entscheiden, lehnt aber die Osterweiterung der Nato generell ab. Drei ehemalige Ostblockstaaten - Polen, Ungarn und Tschechien - sind bereits 1999 der Nato beigetreten, 2004 folgen sieben weitere.

2008: Deutschland und Frankreich gegen schnellen Beitritt

Auf ihrem Gipfeltreffen in Bukarest im April 2008 stellen die Staats- und Regierungschefs der Nato der Ukraine sowie Georgien erstmals einen Nato-Beitritt in Aussicht. "Wir haben heute vereinbart, dass diese Länder Mitglieder der Nato werden", heißt es in der Bukarester Gipfelerklärung. Während die USA einen konkreten Fahrplan für einen schnellen Beitritt fordern, verhindern dies Frankreich und Deutschland. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) fürchtet einen Konflikt mit Russland.

2014: Verstärkte Zusammenarbeit nach Annexion der Krim

Im März 2014 verurteilt Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen die "illegale und unrechtmäßige" Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland und stellt klar, dass das Bündnis dies nicht anerkennen werde. In der Folge intensiviert die Allianz ihre Zusammenarbeit mit der pro-europäischen ukrainischen Regierung. Im Sommer 2014 nimmt Kiew den 2010 von der damaligen pro-russischen Regierung unterbrochenen Beitrittsprozess wieder auf.

2022: Russische Invasion

Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine Ende Februar 2022 solidarisiert sich die Nato mit dem Land und die Mitgliedstaaten liefern in großem Umfang Waffen. Doch weigert sich die Allianz, Bodentruppen zu entsenden und eine Flugverbotszone durchzusetzen, um nicht zur Kriegspartei zu werden. Im September 2022 stellt Kiew einen Antrag auf beschleunigte Nato-Mitgliedschaft.

2023: Beitrittseinladung nur unter Bedingungen

Auf dem Gipfeltreffen in der litauischen Hauptstadt Vilnius bekräftigen die Staats- und Regierungschefs der Allianz ihre Zusage von 2008, dass die Ukraine in Zukunft Nato-Mitglied sein wird. Die von Präsident Wolodymyr Selenskyj erhoffte Beitrittseinladung sprechen sie jedoch nicht aus, weil die USA und Deutschland dagegen sind."Wir werden in der Lage sein, die Ukraine zu einem Bündnisbeitritt einzuladen, wenn die Verbündeten sich einig und Voraussetzungen erfüllt sind", heißt es in der Gipfelerklärung. Zu diesen Voraussetzungen zählt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ein Ende des Krieges sowie Fortschritte im Kampf gegen die Korruption und bei der Angleichung der ukrainischen Armee an Nato-Standards.

Quelle: AFP

Kuleba über Ungewissheit enttäuscht

Kein Geheimnis aus seiner Enttäuschung machte ebenfalls der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba in einem Interview mit dem Nachrichtensender Bloomberg. Laut ihm erfülle die Ukraine bereits alle Bedingungen, um auf dem Gipfel eine formelle Einladung zu erhalten und warnte davor, die Ukraine im Ungewissen zu lassen, was deren Nato-Mitgliedschaft angeht.
Je kürzer es dauert, desto besser wird es für alle sein.
Dmytro Kuleba, Außenminister der Ukraine

Man hätte sagen sollen, "eine Nato-Aufnahme, sobald die Sicherheitsbedingungen es zulassen." Das wäre "ein klares Signal an Putin" gewesen, so Roderich Kiesewetter, CDU.

12.07.2023 | 05:15 min
Das selbstbewusste Auftreten der ukrainischen Regierung bezüglich einer klaren Nato-Perspektive ist auch der innenpolitischen Entwicklung geschuldet, die ein Ergebnis des russischen Überfalls ist. Laut einer am Montag veröffentlichten Umfrage, sprechen sich 89 Prozent der Ukrainer für eine Nato-Mitgliedschaft ihres Landes aus. 2014 lag die Zustimmung bei nur 15 bis 20 Prozent.
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