Interview

: Neitzel: Bislang kein großer Durchbruch

03.07.2023 | 23:38 Uhr
Seit drei Wochen läuft die ukrainische Gegenoffensive. Der "entscheidende Durchbruch" ist aber noch nicht gelungen, sagt Militärexperte Sönke Neitzel. Wie verfahren ist die Lage?

Den "entscheidenden Durchbruch" hätte die ukrainische Offensive noch nicht gefunden, sagt Militärhistoriker Sönke Neitzel.

03.07.2023 | 06:30 min
Die Stellungen an der Front sind schwer umkämpft. Besonders im Osten konnten russische Truppen vorrücken. Kiew selbst spricht von einer "komplizierten Lage". Aber was bedeutet das für den Fortgang des Krieges? Im ZDF heute journal hat Militärhistoriker Sönke Neitzel die Entwicklungen im russischen Angriffskrieg und die ukrainische Gegenoffensive eingeordnet.
Sehen Sie oben das komplette Interview im Video und lesen Sie es hier in Auszügen. Das sagt Sonke Neitzel ...

... zur ukrainischen Offensive und dazu, wie verfahren die Lage ist:

Der Militärhistoriker betont, dass die seit drei Wochen anhaltenden Angriffe auf russische Stellungen zeigten, dass die Ukrainer alles versuchten, was möglich sei. Die ukrainische Armee sei mit "ganz verschiedenen Taktiken" vorgegangen, sie habe es mit "gepanzerten Kräften" versucht, mit "Infanterie an der ganzen Frontbreite".
So ist der Stand bei der ukrainischen Gegenoffensive:

Die Gegenoffensive der ukrainischen Armee kommt nach Regierungsangaben aus Kiew voran, offenbar jedoch nur langsam.

03.07.2023 | 02:49 min
Bisher aber habe sich das Land aber nicht wirklich durchsetzen können. Trotz der Rückeroberung von Gebieten sei der entscheidende Durchbruch - "also eine Weichenstellung" - bisher nicht gelungen.
Noch ist eigentlich nicht klar, wie die Ukraine einen wirklich zählbaren, politisch verwertbaren Erfolg erzielen will.
Sönke Neitzel
Neitzel räumt aber ein, dass die ukrainische Armee bisher nicht die "Masse ihrer Kräfte" eingesetzt habe. Es gebe Brigaden, die noch nicht gekämpft hätten. Und "wir haben die deutschen Schützenpanzer Marder noch nicht im Kampf gesehen."

... zu den westlichen Waffen, die offenbar nicht der erhoffte "Gamechanger" sind

Neitzel bestätigt, dass die vom Westen gelieferten Waffen bisher nicht erheblich zu einer Kräfteverschiebung im russischen Angriffskrieg beigetragen hätten. Das liege auch daran, dass diese "zum Teil für ganz andere Szenarien gebaut worden" seien und teilweise nachgerüstet werden müssten.
Es war von vorneherein klar, dass man mit 18 Leopard-2 nicht den Krieg gewinnt.
Sönke Neitzel
Zudem stellten russische Flughubschrauber und Minen ein erhebliches Problem dar. "Die große Frage ist […], wie es jetzt weitergehen soll."

... zu dem, was die Ukraine jetzt am nötigsten braucht:

Neitzels Antwort ist deutlich: Die Ukraine benötige jetzt vor allem Menschen. Trotz der ukrainischen Angriffe der letzten Tage, sei Russland offenbar nicht geschwächt. Kiew werde nun vermutlich versuchen, mehr Soldaten zu mobilisieren. "Ich glaube, dass [...] sie die Listen von unabkömmlich gestellten Personen reduzieren werden", sagt Neitzel. Diese müssten dann wiederum im Westen, auch in Deutschland, ausgebildet und ausgerüstet werden.
Die Ukraine braucht letztlich mehr Personal.
Sönke Neitzel
Und genau das sei noch immer eine Strategie Moskaus: Ein "Abnutzungskrieg, in dem die Russen auch darauf setzen, dass im Westen der Ruf nach Frieden größer wird" und die Unterstützung dort schwinden werde. Genau wie die Russen darauf setzten, dass vielleicht auch die Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung kleiner werde.
Ukrainische Soldaten kämpfen an vorderster Front für den Sieg – und haben durch den Krieg schon viel verloren.

Eine Reportage über Tod, Leid und Zerstörung im Kriegsgebiet.

20.06.2023 | 02:45 min

... zum möglichen Kalkül der Ukrainer

Der Militärhistoriker betont, dass das von außen eigentlich nicht zu beurteilen sei. "Wir wissen nicht, was das Kalkül der Ukrainer ist, ob sie weiter versuchen anzugreifen, um darauf zu hoffen, doch eine schwache Stelle zu finden, um dann eben mit Macht durchzubrechen."
Es sei nicht einzuschätzen, inwieweit "das, was wir jetzt gesehen haben" ein Signal für den Gipfel der Nato sei, um dort mehr Druck aufbauen zu können. Nach dem Motto: "Seht her, wenn wir bessere und mehr Waffen hätten - auch F16, auch Flugzeuge - könnten wir mehr erreichen." Sicher sei aber: "Alle Zeichen stehen auf einen langen Krieg."
Momentan [...] sieht alles eher in Richtung - ich sage mal das Schlagwort - totaler Krieg aus. "Totaler Krieg" im Sinne von Mobilisierung, im Sinne von mehr Ressourcen, im Sinne von einem längeren Konflikt. 
Sönke Neitzel

... dazu, wie ein Frieden aussehen könnte:

Neitzel ist davon überzeugt, dass es im Hintergrund längst Friedensbemühungen gebe. "Diese diplomatischen Auslotungen hinter den Kulissen passieren natürlich nicht öffentlich." Jetzt gehe es darum zu sehen, was möglich sei. Optimistisch ist Neitzel diesbezüglich nicht. Der Militärhistoriker glaubt, dass es auf keine der beiden Seiten die Bereitschaft gebe, nachzugeben.
Ich sehe nicht, dass Kiew von seinen Plänen runterkommt, sozusagen das Land zu befreien. Ich sehe nicht, dass Moskau von den Plänen runterkommt, den Staat Ukraine zu zerschlagen.
Sönke Neitzel
Der Westen - selbst ja keine neutrale Partei in diesem Krieg - können nur versuchen, über Dritte, "über Indien zum Beispiel" oder auch China Druck auszuüben, um es vielleicht zu einer Verhandlungslösung kommen zu lassen.
Das Interview führte Christian Sievers im ZDF heute journal.
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