: Nord Stream: Die Stille nach der Explosion

von Jan Schneider
09.02.2023 | 14:47 Uhr
Fünfeinhalb Monate nach den Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines sind keinerlei Ermittlungsergebnisse bekannt. Das hat Gründe, schafft aber auch Raum für Verschwörungsmythen.
Die Lecks an den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 waren ein enormer Angriff auf die deutsche Gasversorgung.Quelle: picture alliance / abaca
Was am Montag, dem 26. September 2022 am Grund der Ostsee geschehen ist, kann man ohne Übertreibung einen der schwersten Angriffe auf kritische Infrastruktur in Europa bezeichnen. An drei der vier russischen Ostsee-Pipelines von Nord Stream sind innerhalb kurzer Zeit Lecks entstanden.
Viele westliche Staaten legten sich schnell fest: Das war ein Sabotageakt, höchstwahrscheinlich durch einen staatlichen Akteur. Es gab Schuldzuweisungen in Richtung Moskau, in dieser Frage blieben viele Regierungen aber sehr zurückhaltend.
Mittlerweile, knapp fünfeinhalb Monate später, wissen wir nur wenig mehr. Für die Täterschaft Russlands gebe es aktuell "keine Beweise", zitierte die "Washington Post" zum Jahreswechsel einen europäischen Beamten, der mit der Sache vertraut sein soll. Es gibt Berichte über Satellitenbilder, die Schiffe mit deaktivierten Trackern am Tatort entdeckt haben und einen renommierten US-Enthüllungsjournalisten, der Belege haben will, dass die USA hinter den Explosionen stecken. Doch warum sind die Ermittlungen eine so große Geheimniskrämerei, bei der sogar geheim ist, welche Stellen und Institutionen überhaupt an der Aufklärung beteiligt waren oder noch sind? Eine Spurensuche:

Ermittlungen zu Nord Stream sind streng geheim

Ein Grund, warum so wenig über die Sabotageakte bekannt ist, liegt in der Art der Ermittlungen: Die westlichen Staaten möchten sich nicht in die Karten gucken lassen, welche Überwachungstechnik sie in der Ostsee nutzen, meint Johannes Peters, vom Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel.
Die Ermittlungen werden mit Fähigkeiten im Bereich der Sensorik und der militärischen Aufklärung gemacht. Darüber wird ungern öffentlich gesprochen. Man möchte nicht preisgeben, was man hat, um nicht sagen zu müssen, woher man die Informationen hat.
Johannes Peters, Institut für Sicherheitspolitik
Als erste Stelle, die die Detonationen registriert hat, sei daher auch das schwedische seismologische Netzwerk (SNSN) genannt, also eine öffentlich zugängliche Information. Es sei sehr wahrscheinlich, dass auch militärische Sensoren die Explosionen wahrgenommen haben, diese Informationen würden aber nicht öffentlich gemacht.
Bei den Pipeline-Lecks deutet viel auf Sabotage hin. Die Nato drohte mit Konsequenzen, sollte sich das bestätigen:
Peters geht davon aus, dass die Ermittler sehr viel mehr Material und Informationen gesammelt haben, als bisher bekannt ist. Bis daraus aber handfeste Belege für eine Täterschaft werden, muss viel Arbeit und Zeit investiert werden:
Sowas macht man nur öffentlich, wenn man es belegen kann. Das wäre schon in Friedenszeiten ein echter Hammer. Spekulationen wären in der gegenwärtigen Situation wenig hilfreich und zudem unseriös. Das macht man bei anderen Straftaten auch nicht.
Johannes Peters, Institut für Sicherheitspolitik

Keine Antworten "aus Gründen des Staatswohls"

Die Aufklärung der Sabotageakte war auch Thema in der Regierungsbefragung am Mittwoch. Auch dort gab es jedoch keine Antworten: Die Aufklärung der Explosionen an den Gaspipelines sei geheimdienstlich eingestuft, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Insofern sei "das hier kein Thema für diese Fragestunde", so der Minister. Auch Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD) war nicht gesprächiger:
 
Die Ermittlungen laufen. Der Generalbundesanwalt ist dran.
Wolfgang Schmidt, Kanzleramtschef
Mit demselben Argument wurde auch auf eine parlamentarische Anfrage der Linken im Bundestag reagiert. Als Gründe für das Schweigen der Regierung werden dort genannt:
  • Eine Auskunft zu Erkenntnissen aus dem Ermittlungsverfahren würde weitergehende Ermittlungsmaßnahmen erschweren oder gar vereiteln.
  • Die Beantwortung der Fragen könne "aus Gründen des Staatswohls nicht erfolgen".
  • Eine Offenlegung berge die konkrete Gefahr, dass Einzelheiten zu besonders schutzwürdigen spezifischen Fähigkeiten, Kenntnisstand, Methodik und Arbeitsweise der Nachrichtendienste des Bundes bekannt würden.

Auch Parlamentarisches Kontrollgremium nicht informiert

Besseren Zugang zu geheimen Informationen aus dem Bereich der Geheimdienste sollte eigentlich das Parlamentarische Kontrollgremium (PKGr) haben. Die Bundesregierung ist nach dem Kontrollgremiumgesetz sogar dazu verpflichtet, das "PKGr umfassend über die allgemeinen Tätigkeiten der Nachrichtendienste und über Vorgänge von besonderer Bedeutung zu unterrichten".
Wie können Gaspipelines in Nord- und Ostsee gesichert werden? ZDFheute live spricht mit Experten:
Im Falle der Nord-Stream-Ermittlungen wird dieser Grundsatz aber mit zwei Begründungen ausgehebelt: Die Informationen unterliegen den Restriktionen der sogenannten "Third-Party-Rule". Das ist eine Absprache zwischen den Nachrichtendiensten verschiedener Länder, die sinngemäß besagt, dass Informationen nicht ohne das Einverständnis der jeweils anderen weitergegeben werden dürfen.
Außerdem ist die Informationsweitergabe an das Gremium immer dann zusätzlich eingeschränkt, wenn der Generalbundesanwalt Ermittlungen leitet.

Es soll kein Raum für Verschwörungstheorien entstehen

Neben den Geheimhaltungsvorgaben gibt es aber auch noch einen weiteren Grund für das Schweigen: Wenn Beweise vorgelegt würden, müssten daraus auch Konsequenzen abgeleitet werden, meint der Sicherheitsexperte Niklas Rossbach von der Swedish Defence Research Agency im Interview mit ZDFheute:
Der Westen will nicht schwach wirken, wenn sie einen Schuldigen benennen, und dann aber keine Optionen zur Bestrafung haben.
Niklas Rossbach, Swedish Defence Research Agency
Zudem müssten die Beweise so stichhaltig sein, dass es keinen Spielraum für Zweifel und Verschwörungstheorien gebe. Das sei eine Lehre gewesen aus den Ermittlungen zum Abschuss des Flugzeugs MH-17 über der Ostukraine.

Und dann doch Verschwörungstheorien rund um die Gaspipelines

Bereits unmittelbar nach dem Sabotageakt kursierten unterschiedlichste Theorien, die den USA oder Großbritannien eine Verantwortung zuzuschreiben versuchten. Die argumentative Grundlage: dünn. Experten verwiesen immer wieder darauf, dass keine dieser Mutmaßungen eine Plausibilitätsprüfung überstehe. Gleichzeitig verstärkte die russische Regierung gezielt eine ganze Reihe sich gegenseitig widersprechender Theorien - diese Strategie, Verwirrung zu stiften, ging auf.
Die mögliche Sabotage der Nordstream-Pipeline hat auch Deutschland alarmiert:
Am Mittwoch veröffentlichte der US-Investigativreporter Seymour Hersh auf seinem Blog die These, wonach US-Marinetaucher für die Explosionen an der Nord-Stream-Gaspipeline in der Ostsee verantwortlich gewesen sein sollen. Hersh behauptet, US-Marinetaucher hätten im vergangenen Juni bei einer vom Weißen Haus angeordneten verdeckten Operation Sprengsätze an den Gaspipelines angebracht, beruft sich dabei aber offenbar nur auf eine einzige anonyme Quelle.
"Das ist völlig falsch und eine vollkommene Erfindung", erklärte die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Adrienne Watson, noch am selben Tag. Ein Sprecher des Auslandsgeheimdienstes CIA schloss sich dem an.
Der Russland-Experte Gerhard Mangott sagte im ORF, Hersh habe in der Vergangenheit sehr kontroverse Positionen vertreten, etwa dass Ermordung Osama bin Ladens gestellt gewesen sei.
Hersh hat doch einiges an Glaubwürdigkeit verloren.
Gerhard Mangott, Universität von Insbruck
Die USA hätten zwar die Fähigkeit und auch ein Motiv für die Zerstörung der Pipelines, doch das hätten auch andere Staaten inklusive Russland, so Mangott. Auch andere Sicherheitsexperten äußerten Zweifel an der Glaubwürdigkeit der These:
Peter R. Neumann auf Twitter
Fazit: Ermittlungen dieser Art dauern lange und die Geheimhaltungsstufe ist enorm hoch. Dass keine Zwischenergebnisse veröffentlicht werden, soll den Raum für Spekulationen verkleinern und in der aktuell angespannten Lage auf keinen Fall zu einer weiteren Eskalation des Konflikts beitragen. Früher oder später müssen die ermittelnden westlichen Regierungen aber ihrer Informationspflicht nachkommen und die Ermittlungsergebnisse vorstellen. Der Mangel an offiziellen Informationen kann sonst Verschwörungstheorien weiter befeuern.

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