: Königsmacher Ogan - aber für wen?

von Doris Neu
15.05.2023 | 15:25 Uhr
Wer künftig die Türkei regiert, wird in einer Stichwahl Ende Mai entschieden: Erdogan hat die absolute Mehrheit knapp verfehlt. Königsmacher dürfte Außenseiter Sinan Ogan werden.

Professor Hüseyin Bağcı erklärt: Präsident Erdoğan habe seine Wähler bisher mit seiner Rhetorik und seinem Auftreten beeindruckt. Für ihn sei es nun schwieriger.

15.05.2023 | 03:45 min
Es ist das erste Mal seit 20 Jahren, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan nicht im ersten Wahlgang auf Anhieb die Präsidentenwahl in der Türkei gewonnen hat. Aber er hat dennoch mehr Stimmen geholt als erwartet: Erdogan verfehlte nur knapp die absolute Mehrheit und mit etwa fünf Prozent liegt er vor dem Kandidaten des Oppositionsbündnisses, Kemal Kilicdaroglu.
Nach Auszählung fast aller Stimmen entfielen laut Wahlbehörde auf Erdogan 49,51 Prozent der Stimmen, Kilicdaroglu kam auf 44,88 Prozent. Der dritte Kandidat, Sinan Ogan von der ultanationalistischen Ata-Allianz, erhielt 5,17 Prozent. Jüngsten Angaben zufolge waren etwa 35.800 Stimmen noch nicht ausgezählt - selbst wenn alle Stimmen an Erdogan gingen, würde es am Gesamtbild nichts ändern.
Somit geht die Präsidentenwahl in eine zweite Runde, die Stichwahl soll am 28. Mai stattfinden. Im Parlament zeichnete sich ab, dass Erdogans AKP stärkste Kraft wird.

Kampf um Stimmen der Ogan-Anhänger

Bei der Stichwahl wird entscheidend sein, auf wessen Seite sich die Anhänger von Außenseiter Sinan Ogan schlagen werden - ihm kommt die Rolle des Königsmacher zu.
Beide Kandidaten werden versuchen, die Stimmen der Ogan-Anhänger für sich zu gewinnen. Erdogan werde dazu dessen "antikurdische und flüchtlingsfeindliche Programmatik bedienen", sagte der Politikwissenschaftler und Türkei-Forscher Burak Copur von der Internationalen Hochschule (IU) Essen gegenüber ZDFheute. Letztlich müsste auch Kilicdaroglu diese Programmatik bedienen, wenn er diese Stimmen abgreifen will, die er für einen Sieg so dringend bräuchte, so Copur.

Einen Wahlsieg des Amtsinhabers hält Türkei-Experte Kristian Brakel für sehr wahrscheinlich. Für Kılıçdaroğlu sei es keine Option, um die Stimmen des Dritten Sinan Oğan zu werben.

15.05.2023 | 05:52 min
Kilicdaroglu hat zwar im Wahlkampf eine harte Gangart gegenüber Flüchtlingen angekündigt, mit Blick auf die Kurden in der Türkei aber einen eher integrativen Kurs. Die prokurdische Oppositionspartei HDP, die wegen eines Verbotsverfahrens nicht direkt an der Wahl teilnahm, sondern unter dem Banner der Grünen Linkspartei, hatte dazu aufgerufen, Kilicdaroglu bei der Präsidentenwahl zu unterstützen.

Ideologische Nähe zu Erdogans AKP

Noch hält sich Sinan Ogan bedeckt - im ZDF-Interview kündigt er eine Wahlempfehlung für das Wochenende an. Zuvor hatte er bereits die Bedingung gestellt, dass sich die Opposition von der Kurden-Partei HDP distanzieren soll. Das aber dürfte für Kilicdaroglu keine Option sein. "Die Kurden-Partei hat aber fast neun Prozent der Stimmen, das bedeutet, da würde man ein sehr schlechtes Geschäft eingehen", sagt Kristian Brakel, der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, bei ZDFheute live.

Erdoğans Rede in der Wahlnacht zeige, dass das Land vor einer schwierigen Zeit stehe, sagt CDU-Politikerin Güler.

15.05.2023 | 07:36 min
Beobachter gehen auch davon aus, dass sich viele Ogan-Anhänger ohnehin wegen der ideologischen Nähe eher Erdogan zuwenden: Ogans Partei ist eine Abspaltung der ultranationalistischen MHP, die mit Erdogans islamistisch-konservativer AKP eine Koalition bildet. Ein weiterer Grund sei auch, dass Kilicdaroglu der religiösen Minderheit der Aleviten angehöre.

Regieren für Kilicdaroglu würde schwierig

Und sollte Kemal Kilicdaroglu die Stichwahl dennoch gewinnen, könnte er dann überhaupt etwas bewirken? Regieren würde sehr schwierig, denn er hätte ein Parlament mit einer AKP-Mehrheit, das ihm "immer wieder Knüppel zwischen die Beine werden würde", sagt Türkei-Experte Copur.
Das dürfte nach Einschätzung Brakels von der Heinrich-Böll-Stiftung einer der wichtigsten Punkte im Wahlkampf der kommenden zwei Wochen werden. Erdogan hatte schon in seiner Rede in der Wahlnacht deutlich gemacht: Die Wähler sollten bedenken, dass die Regierung praktisch handlungsunfähig wäre, wenn die Präsidentschaft nicht an ihn ginge. Er sei sich sicher, dass die Wähler in einer Stichwahl "Sicherheit und Stabilität" bevorzugten.
Es stimme zwar nicht ganz, dass der Präsident ohne Parlamentsmehrheit nichts machen könne, so Brakel. Erdogan hatte schließlich mit der Verfassungsänderung von 2017 dem Präsidentenamt sehr viele Vollmachten eingeräumt. "Aber das Dilemma wäre natürlich, dass das Regieren per Präsidialdekret sehr undemokratisch ist und genau das Gegenteil von dem, was die Opposition versprochen hat."

In zweiter Runde nur einfache Mehrheit nötig

Brakel hält es für wahrscheinlich, dass sich Erdogan im zweiten Wahlgang durchsetzen wird. Aktuell fehlten ihm nur wenige Stimmen bis zur absoluten Mehrheit, in der zweiten Runde sei nur eine einfache Mehrheit nötig und schon jetzt habe er fünf Prozent Vorsprung. "Wo sollen denn diese fünf Prozent oder sogar ein bisschen mehr für die Opposition herkommen?" Daher:
Die Wahrscheinlichkeit, dass uns am Ende doch Erdogan erhalten bleibt, ist sehr groß.
Kristian Brakel, Heinrich-Böll-Stiftung Istanbul

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