: Türkei: Wahlbetrug im Erdbebengebiet?

von Anna Feist
08.05.2023 | 15:31 Uhr
Am Sonntag wählt die Türkei. Die Opposition will Hunderttausende Freiwillige an den Wahlurnen postieren, die aufpassen sollen, dass es nicht zu Betrug kommt.

Bürger im Erdbebengebiet befürchten einen bevorstehenden Wahlbetrug. Denn: Auch die Daten der verstorbenen Erdbebenopfer stehen noch in den Wahlregistern.

08.05.2023 | 03:21 min
"We are not a banana republic", auf Deutsch: "Wir sind keine Bananenrepublik." Es war der wohl prägnanteste Satz, den Oguz Kaan Salıcı an einem Samstag Ende April in Istanbul sagte. Damals informierte der stellvertretende Vorsitzende der CHP, der stärksten Oppositionspartei der Türkei, die ausländische Presse über das Prozedere am Wahltag - und warnte vor Betrügereien.
Dabei äußerte er eine klare Befürchtung:
Wir haben kein Vertrauen in die Regierung. Wir trauen der obersten Wahlbehörde nicht zu, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wir verlassen uns nur auf unsere eigene Kraft.
Oguz Kaan Salıcı, stellvertreter Vorsitzender der Oppositionspartei CHP
In der Praxis heißt das, die CHP und ihr Wahlbündnis aus sechs Parteien werden am Wahltag Hunderttausende Freiwillige an die Wahlurnen stellen, die überprüfen sollen, dass alles mit rechten Dingen zugeht.

"Die Spannung steigt mit jedem Tag", so ZDF-Korrespondent Jörg Brase.

08.05.2023 | 01:47 min

Wie viele Erdbebentote?

1.000 Kilometer weiter südöstlich von Istanbul, in der Provinz Adiyaman, mitten im Erdbebengebiet, ist Burak Binzet zuständig für 1.442 Wahlurnen. Er, der regionale Vorsitzende der CHP. Sein größtes Problem seien die, die tot sind, denn ihre Daten stehen noch im Wahlregister, erklärt Binzet. Die Befürchtung: Die Stimmen der Toten könnten missbraucht werden.

Seit fast zwei Wochen können die 1,5 Millionen in Deutschland lebenden Türken ihre Stimme für die Wahl abgeben. Hierzulande ist die Meinung zu einer Wiederwahl Erdogans gespalten.

08.05.2023 | 00:49 min
Um wie viele Stimmen es genau geht, ist unklar. Denn: Offizielle Zahlen sprechen von mehr als 6.000 Toten, Burak Binzet rechnet aber mit Zehntausenden, allein in Adiyaman: "Wenn man davon ausgeht, dass in jedem Haushalt eine Person gestorben ist, sind 44.000 Menschen tot."
Im schlimmsten Fall leben in jedem Gebäude zwei oder drei Familien. Wenn man davon ausgeht, dass die Hälfte von ihnen überlebt hat, dann sind es immer noch mindestens 40.000 Tote.
Burak Binzet, Vorsitzende der CHP in Adiyaman

Vor der Türkei-Wahl deutet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen an. Das Sechs-Parteien-Bündnis um Herausforderer Kilicdaroglu verspricht, Demokratie und Meinungsfreiheit zurückzubringen.

07.05.2023 | 02:39 min

Tote, die wählen?

Auf den Wahllisten stehen tatsächlich mehrere Personen, die beim Erdbeben gestorben sind. Die Dorfvorsteher sagen, sie werden die Namen von der Liste löschen lassen, am Wahltag aufpassen, dass kein Toter wählt.
Hier, auf dem Dorf, sei das möglich, erklärt Yilmaz Bozdemir:
In meinem Wahlbezirk gibt es 330 Wähler. Ich kenne jeden von ihnen. Aber in Adiyaman zum Beispiel gibt es Viertel mit 10.000 Wählern. Dort kann nicht jeder jeden kennen.
Yilmaz Bozdemir, Dorfvorsteher
Ähnlich sieht es sein Kollege, der Dorfvorsteher Aziz Kartal: "Die könnten betrügen!" - "Die", damit meint er die AKP, die Partei des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Mehmet Dagikan ist Mukhtar, also Stadthalter eines Bezirks in Adiyaman, der zur AKP gehört. Und er ist zuständig für mehr als 6.000 Menschen. Er wiegelt ab:
Seit 15 Jahren bin ich Bezirksvorsteher. Ich weiß, wer tot ist und wer nicht.
Mehmet Dagikan, AKP, Stadthalter eines Bezirks in Adiyaman
Aber kennt er tatsächlich alle Menschen hier? Mehmet Dagikan nickt: "Also nicht alle bei Namen, aber hier weiß man einfach, ob es diese Person gibt oder nicht."

Hunderttausende Freiwillige

Burak Binzet, der Vorsitzende der CHP, will sich darauf nicht verlassen:
Schon in der Vergangenheit kam es zu schwerem Wahlbetrug. Dieses Mal werden wir das versuchen zu verhindern, indem wir alle Vorsichtsmaßnahmen treffen.
Burak Binzet, Vorsitzender der CHP
Alle Vorsichtsmaßnahmen, das bedeutet: Sie haben Hunderttausende Freiwillige im ganzen Land angeheuert, Menschen aus der Region, die aufpassen, dass kein Toter wählt. Ob das funktionieren wird, das zeigt sich bei der Türkei-Wahl am Sonntag an der Wahlurne.
Alles rund um das Erdbeben in der Türkei und Syrien können Sie hier nachlesen:

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