: Gegenoffensive: Kiew tastet sich erstmal vor

von Christian Mölling, András Rácz
21.06.2023 | 22:00 Uhr
Russland leistet heftig Widerstand gegen die gerade angelaufene Offensive Kiews. Der Ukraine wiederum fehlt die Luftwaffe - und sie testet gerade den Frontverlauf aus.
Ukrainische Streitkräfte treffen an der Front auf heftigen russischen Widerstand.Quelle: AP
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj räumt ein, dass die Gegenoffensive aufgrund des zähen russischen Widerstands langsamer vorankommt, als viele erwartet hatten. Einige Beobachter wollen gar schon ein Scheitern erkennen. Für so eine Bewertung fehlt jedoch die Grundlage.

Angriffspläne für Gegenoffensive unbekannt

  • Erstens kennen nur sehr wenige Menschen die Angriffspläne der ukrainischen Armee. Wir wissen nicht, was sie ursprünglich geplant hat, mit welcher Geschwindigkeit sie vorrücken wollte, welche Städte sie bis jetzt zu befreien gedachte. Deshalb können wir die Pläne nicht mit den - bisher offenbar begrenzten - Ergebnissen vergleichen.

Entlang der Saporischschja-Front hätte die ukrainische Armee mehrere Optionen, sagt Militärexperte Marcus Keupp bei ZDFheute live. Für die Russen sei das gefährlich.

15.06.2023 | 10:48 min
  • Zweitens hat die Ukraine bisher nur einen begrenzten Teil ihrer Streitkräfte in den Kampf geschickt. Von den zwölf neuen Armeebrigaden, die für die Gegenoffensive aufgestellt wurden, sind nur drei oder vier in die Schlacht gezogen - und keine von ihnen in voller Stärke. Daher waren die bisherigen Gefechte im Vergleich zur Gesamtstärke der ukrainischen Streitkräfte für die Gegenoffensive relativ klein.
  • Drittens hat Russland bereits die Kontrolle über etwa acht Dörfer und etwas mehr als 100 Quadratkilometer Territorium verloren und erhebliche materielle Verluste erlitten. Nicht nur Militärfahrzeuge wurden in großer Zahl zerstört, sondern auch Munitionslager - darunter ein besonders großes in Rykove am 21. Juli - sowie mehrere Kommandoposten. Bei einem ukrainischen Angriff wurde der Stabschef der russischen 35en Armee, Generalmajor Sergej Gorjatschow, getötet, wahrscheinlich zusammen mit einigen seiner Stabsoffiziere.
Das sind die Autoren der Militäranalyse:

Dr. Christian Mölling ...

Quelle: DGAP
... ist Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin und leitet dort das Programm Sicherheit, Verteidigung und Rüstung. Er forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu den Themenkomplexen Sicherheit und Verteidigung, Rüstung und Technologie, Stabilisierung und Krisenmanagement. Für ZDFheute analysiert er regelmäßig die militärischen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt.

Dr. András Rácz ...

Quelle: DGAP
... ist Associate Fellow im Programm Sicherheit und Verteidigung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Er forscht und publiziert zu Streitkräften in Osteuropa und Russland und hybrider Kriegsführung.

Bisher keine strategischen Erfolge für die Ukraine

Dennoch ist es klar, dass die Gegenoffensive bisher keine strategische Verbesserung gebracht hat. Keine der befreiten Siedlungen ist besonders groß oder wichtig, und auch die Verluste der Ukraine sind hoch.
Obwohl sich die westlichen Kampffahrzeuge als wesentlich widerstandsfähiger erwiesen haben als ihre ex-sowjetischen Pendants und somit viel eher in der Lage sind, das Leben ihrer Besatzungen zu retten, sind die Verluste immer noch beträchtlich.

Minenfelder und fehlende Kampfflugzeuge verursachen Probleme

Eines der Hauptprobleme sind die extrem großen und tiefen Minenfelder, die Russland angelegt hat und die oft von einem dichten Netz von Feldbefestigungen bedeckt sind. Wäre die Ukraine in der Lage, die russische Artillerie und Infanterie, die diese Minenfelder abdecken, zu unterdrücken und die Befestigungen auszuschalten, wäre die Räumung der Minen kein großes Problem - aber die Ukraine ist dazu nicht in der Lage, vor allem wegen der fehlenden Luftstreitkräfte.

Mit Gräben, Erdwällen, Minenfeldern und sogenannten Drachenzähnen entlang der Front und auf der Krim hat sich die russische Armee auf die ukrainische Gegenoffensive vorbereitet.

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Geringe Anzahl an Flugabwehrsystemen

Das Fehlen einer eigenen Luftwaffe, das heißt eines Luftschutzes und von Luftangriffen auf russische Stellungen, ist eine große Schwäche. Noch schlimmer ist, dass die ukrainischen Streitkräfte ohne Luftstreitkräfte den russischen Luftangriffen schutzlos ausgeliefert sind.
Russische Kampfflugzeuge greifen ukrainische Stellungen immer wieder aus großer Entfernung an, indem sie Gleitbomben einsetzen. Noch wichtiger ist, dass russische Kampfhubschrauber vorrückende ukrainische Fahrzeugkolonnen angreifen konnten, insbesondere wenn sie durch Minenfelder aufgehalten wurden.

Die ukrainische Armee kommt bei ihrer Gegenoffensive nur langsam voran. Und - der Chef der Internationalen Atom-Energiebehörde Grossi besuchte das bedrohte AKW Saporischschja.

15.06.2023 | 01:54 min
Obwohl die Ukraine Luftabwehrsysteme mit kurzer Reichweite nach vorne verlegt hat und es ihr gelungen ist, einige russische Ka-52 und Mi-24 Kampfhubschrauber auszuschalten, ist die russische Militärführung offenbar bereit, hohe Hubschrauberverluste in Kauf zu nehmen, wenn dies der Preis dafür ist, den ukrainischen Vormarsch aufzuhalten.

Russlands Vorteile bei der Gegenoffensive

Russland hatte drei unangenehme Überraschungen für den ukrainischen Gegenangriff parat.
  • Die erste ist eine früher selten eingesetzte Waffe, das ferngesteuerte Minensystem Zemljedelije, das in der Lage ist, Minenfelder in einer Entfernung von fünf bis 15 Kilometern zu legen, in einigen Fällen direkt in den Weg der vorrückenden ukrainischen Kolonnen.
  • Die zweite ist eine äußerst intensive, elektronische Kriegsführung, mit der die ukrainische Kommunikation, einschließlich der von Drohnen, ausgeschaltet oder gestört werden kann.
  • Drittens konnte Russland nach der Zerstörung des Nowa-Kachowka-Damms fast alle seine Kräfte, die das Dnipro-Ufer verteidigten, an die Saporischschja-Front verlegen, das heißt, mehrere Brigaden.
Alles in allem passt die Ukraine offenbar ihre Pläne an und berücksichtigt dabei die Erfahrungen, die sie in den letzten zwei Wochen gemacht hat.
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