: Waffe Gas: Wie Moskaus Angriff 2021 begann

von Hans Koberstein
06.03.2023 | 10:49 Uhr
Die Energiekrise begann nicht erst mit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 und den darauf folgenden Sanktionen. Das zeigen Recherchen der ZDF-Redaktion frontal.

Seit einem Jahr hat der russische Staatskonzern Gazprom seine Gaslieferungen nach Deutschland systematisch verknappt. Die Folge waren Preissteigerungen, Firmenpleiten und die Erkenntnis, dass Deutschland von diesen Lieferungen abhängig ist.

08.03.2022
Die deutsche Energiekrise samt hoher Preise sei das Ergebnis eines Sanktionskrieges zwischen Russland und dem Westen - das denken viele. Tatsächlich nahm die Energiekrise schon ein Jahr vor dem russischen Angriff auf die Ukraine ihren Anfang.
Der russische Gaskonzern Gazprom, der vom Kreml kontrolliert wird, nutzte die Abhängigkeit Deutschlands von russischen Gasimporten aus und brachte deutsche Haushalte und die deutsche Wirtschaft in eine prekäre Lage, noch bevor die russischen Panzer auf Kiew rollten.

Verdeckter Angriff auf Deutschlands Energieversorgung

Der russische Energieangriff erschien zunächst als eine Verkettung unglücklicher Ereignisse. Vor dem Krieg konnte sich niemand vorstellen, dass Russland Erdgaslieferungen als Waffe gegen Deutschland einsetzt. Tobias Federico, Geschäftsführer von Energy Brainpool, erinnert sich:
Russland hat immer geliefert, auch zu Zeiten des Kalten Krieges. Das war die Standardphrase, mit der sich der Markt beruhigte.
Tobias Federico, Energy Brainpool
Doch Anfang Januar 2021 bot Gazprom kaum noch Gas über seine eigene Handelsplattform an.

03.01.2021

Quelle: dpa
Gazprom reduziert mitten im Winter die Gaslieferungen am Grenzübergang Velke-Kapuzany von 890 auf 276 GWh pro Tag.

04.01.2021

Gazprom verkauft anders als in den Vormonaten kaum noch Gas über die eigene elektronische Handelsplattform ESP.

01.05.2021

Die Heizperiode ist vorbei, doch Gazprom befüllt seine deutschen Speicher nicht, wie sonst üblich. Gazprom besitzt die größten Gasspeicher Deutschlands und Österreichs - Gazprom lässt sie über den Sommer leerlaufen.
Dann drosselte Gazprom auch noch die Lieferungen über die Ukraine nach Europa und füllte überdies seine deutschen Gasspeicher nicht wie sonst üblich im Frühling und Sommer wieder auf - auch nicht den größten deutschen Gasspeicher in Rehden.
Russische Gasleitungen nach Deutschland.Quelle: ZDF
"Das war der erste Schachzug Russlands im Wirtschaftskrieg gegen den Westen", sagt Tobias Federico rückblickend. Der Markt reagierte nervös, die Gaspreise verdoppelten sich.

Frederico: Abhängigkeit vom Gas war "ausdauernder Plan Russlands"

"Es war ein langer, ausdauernder Plan Russlands", sagt Tobias Federico rückblickend: Deutschland sukzessive abhängig von russischem Pipeline-Gas zu machen und die größten Speicher hierzulande aufzukaufen, sodass Deutschland verwundbar ist, wenn Gaslieferungen aus Russland ausbleiben.
Im Herbst 2021 eskaliert die Lage. Gazprom zieht die Daumenschrauben an, drosselt seine Lieferungen nicht nur über die Ukraine, sondern auch in der wichtigen Jamal-Pipeline, die über Polen nach Deutschland verläuft.

01.08.2021

Quelle: epa Maxim Malinovsky/epa/dpa
Gazprom drosselt die Lieferungen über Polen nach Deutschland von 865 auf 520 Gigawattstunden am Tag.

05.08.2021

Es brennt in einer Gazprom-Aufbereitungsanlage für Gaskondensat in Sibirien. Deshalb würden Gaslieferungen nach Westeuropa reduziert, berichten Medien unter Berufung auf Gazprom.

12.08.2021

Der größte Speicher Österreichs gehört Gazprom und ist noch nicht einmal halbvoll. Füllstand 40 Prozent. Der Gasspeicher ist wichtig, um über den Winter zu kommen.

16.08.2021

Gazprom verringert seine Lieferbuchungen drastisch. Über die Ukraine soll ab September kaum noch Gas gen Westen fließen: Statt durchschnittlichen 105 Millionen weniger als eine Million Kubikmeter am Tag.

05.09.2021

Die Probleme in der Gazprom-Aufbereitungsanlage in Sibirien sind nach dem Brand überwunden. Die Anlage verarbeitet Gaskondensat. Die Erdgasproduktion war nur geringfügig betroffen und läuft wieder auf voller Kapazität.

01.10.2021

Die Heizperiode beginnt, und die deutschen Gasspeicher sind nur zu 68 Prozent gefüllt - ein historisch niedriger Stand. Die Speicher von Gazprom in Deutschland sind nur zu rund 20 Prozent gefüllt. Beim Gaspreis gibt es ein Allzeithoch: rund 100 Euro pro Megawattstunde im Oktober.

02.10.2021

Gazprom drosselt erneut seine Gaslieferungen über Polen. Am Grenzübergang Mallnow sinkt die Liefermenge von zuvor mehr als 800 auf 132 Gigawattstunden am Tag.

11.10.2021

Gazprom senkt für mehrere Wochen die Gaslieferungen über Waidhaus an der tschechischen Grenze nach Deutschland; zeitweise bis auf Null.

13.10.2021

Gazprom stellt den Verkauf von Erdgas über seine Handelsplattform ESP komplett ein.

18.12.2021

Gazprom stoppt alle Lieferungen über Polen nach Deutschland, mitten im Winter. Der Gaspreis schießt auf ein neues Allzeithoch. Gegenüber dem Jahresbeginn kostet Erdgas das Neunfache.

03.01.2022

Gazprom drosselt erneut seine Gaslieferungen über die Ukraine gen Westen.

24.02.2022

Russland marschiert in die Ukraine ein.
Deutschland droht Gasknappheit im Winter, weil die Gasspeicher so leer sind wie noch nie zuvor. Der Gaspreis steigt auf noch nie dagewesene Höhen. Im Oktober 2021 hat er sich gegenüber Jahresbeginn verfünffacht.

Russlands Lieferprobleme waren nur vorgetäuscht

Im Sommer 2021 kursieren Medienberichte unter Berufung auf Gazprom, wonach es Lieferprobleme gebe, nachdem es in einer Gazprom-Anlage in Sibirien brannte. Kann dieser Brand die deutsche Gasknappheit erklären? Wohl kaum. Denn nach frontal-Recherchen reduzierte Gazprom seine Lieferungen bereits vor dem Brand immer wieder drastisch.
Zudem währten die Probleme aufgrund des Brandes in Sibirien nur kurz. Das berichtet der deutsche Gazprom-Partner Wintershall Dea, der gemeinsam mit Gazprom in Sibirien Gas für Deutschland fördert.

Der Ölriese Wintershall Dea ist in Putins Kriegsmaschine verstrickt. Nun will der Konzern sein milliardenschweres Russland-Geschäft aufgeben.

24.01.2023 | 08:04 min
Wintershall Dea schreibt in seinem Quartalsbericht: "Die Produktion lief etwa vier Wochen später wieder auf voller Kapazität". Der Brand war am 5. August. Anfang September 2021 waren die Probleme demnach gelöst.

Wegen Erdgasmangel explodieren in Deutschland die Preise

Im Oktober dann, ausgerechnet zu Beginn der Heizperiode, kappt Gazprom seine Lieferungen über Polen nach Deutschland noch einmal drastisch, um sie im Dezember ganz einzustellen.
Der Gaspreis klettert auf schwindelerregende Höhen. Gegenüber Jahresbeginn hat sich der Gaspreis fast verzehnfacht.
ZDFheute Infografik
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Nicht nur der Gaspreis ist praktisch unbezahlbar, auch der Strompreis geht durch die Decke. Tobias Federico:
Gaskraftwerke wurden die preissetzenden Kraftwerke am Strommarkt in Deutschland.
Tobias Federico, Geschäftsführer Energy Brainpool
Deshalb trieb der Gas- auch den Strompreis auf Rekordhöhe, erinnert sich Federico.

Die deutsche Energiekrise - pünktlich zu Kriegsbeginn

Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfällt, steckt Deutschland in einer handfesten Energiekrise, ist in einer verletzlichen, schwachen Position, die Gazprom durch seine Lieferkürzungen maßgeblich verursacht hat. Federico urteilt heute:
Diese Tatsache wurde vom Markt erstmal nicht gesehen. Aber in der Retrospektive sind diese Spielzüge dann doch offensichtlich geworden.
Tobias Federico, Energy Brainpool
Russland hat im Jahr 2021 Erdgas als Waffe gegen Deutschland wirksam in Position gebracht.
Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:

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