: Vorbei an einem Friedhof aus Panzerteilen

von Dara Hassanzadeh
12.11.2022 | 13:06 Uhr
Russland hat sich zurückgezogen, die ukrainische Armee steht vor der Stadtgrenze Chersons: Wie die Stadt zurückerobert werden konnte. Erste Eindrücke aus der Region.
Die Rückeroberung von Cherson ist ein großer Schritt für die Ukraine. Sie macht ein Vorrücken Russlands nach Odessa nahezu unmöglich, bringt Stellungen auf der Krim in Reichweite der Artillerie und bringt geliebte Melonenfelder um Cherson zurück.
Im Juli klang es fast vermessen, als Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Großoffensive auf Cherson ankündigte. Mit einher ging eine gewaltige Mobilisierung von Reservisten. Die ukrainische Armee wurde auf über 1,2 Millionen Soldaten vergrößert.

Selenskyj wollte klares Zeichen vor Cherson-Offensive

Und Selenskyj vollzog überraschende Personalentscheidungen: Er setzte die überaus bekannte und selbst im Ausland populäre Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa ab. Sie hatte sich mit den Ermittlungen zu russischen Kriegsverbrechen in Butscha einen Namen gemacht.
Auch der Chef des Geheimdienstes Iwan Bakanov wurde entlassen. In beiden Behörden wurden unverhältnismäßig viele Fälle von Hochverrat und Kollaboration mit Russland festgestellt und Hunderte von Ermittlungsverfahren eingeleitet. Selenskyj wollte ein klares Zeichen setzen vor der Großoffensive auf Cherson.

Russland konnte Cherson leicht erobern

Nicht ohne Grund. Cherson war als erste und einzige Provinzhauptstadt ohne nennenswerte Gegenwehr von der russischen Armee erobert worden. Es war ein leichtes Vorrücken, denn die zentrale Antoniwka-Brücke über den Kilometer breiten Dnipro war nicht gesprengt worden. Diese verheerende Entscheidung ging auf Kollaboration im Staatsapparat zurück, darüber ist man sich in Kiew einig.
Die wenigen ukrainischen Truppen konnten der russischen Übermacht nicht standhalten.
Cherson liegt im Süden der Ukraine.Quelle: ZDF

Elefantenfriedhof aus Panzerteilen in den Feldern vor der Stadt

Gestoppt wurde der Vormarsch erst an der Stadtgrenze von Mykolajiw. Auch weil dort ein verheerender, taktischer Fehler der russischen Kommandanten gemacht wurde. Die vorrückenden Panzer verteilten sich nicht, sondern sammelten sich an einem Punkt zum weiteren Vormarsch. Sie waren ein leichtes Ziel für die Ukraine. Und noch heute sieht man eine Art Elefantenfriedhof aus Panzerteilen in den Feldern vor der Stadt.
"In Erwartung einer ukrainischen Offensive mit Infanterie, verlegte Russland immer mehr Truppen nach Cherson, darunter kampferprobte Fallschirmjäger-Verbände", sagt Captain Sergij von der 59. Brigade der ukrainischen Armee. "Aber unsere Taktik fußte auf den Einsatz moderner Artillerie, die der Westen uns endlich geliefert hat."

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Quelle: ZDF
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Wie arbeitet das Aktionsbündnis?

Das Aktionsbündnis Katastrophenhilfe hilft Menschen in der Ukraine und auf der Flucht. Gemeinsam sorgen die Organisationen Caritas international, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie Katastrophenhilfe und UNICEF Deutschland für Unterkünfte und Waschmöglichkeiten, für Nahrungsmittel, Kleidung, Medikamente und andere Dinge des täglichen Bedarfs. Auch psychosoziale Hilfe für Kinder und traumatisierte Erwachsene ist ein wichtiger Bestandteil des Hilfsangebots.

Ukraine hat Munitionsdepots und Brücken beschossen

Systematisch wurden russische Munitionsdepots, Kommandostände und Brücken beschossen. Und plötzlich ging die Ukraine in den Angriff auf dem Boden über: im Norden bei Charkiw.
Der Überraschungscoup gelang. Die russische Armee zog sich fluchtartig aus Charkiw zurück und hatte in Cherson immer größere Schwierigkeiten, die inzwischen auf 30.000 Soldaten angewachsene Verteidigungslinie zu versorgen.
Welche Folgen der Rückzug Russlands aus Cherson hat, lesen Sie in dieser Militäranalyse:

Ukraine brauchte Geduld für Rückeroberung

Eine Schwierigkeit bei dieser Operation war das Aufbringen von Geduld: Unter den einfachen Soldaten, die seit Juli in den Schützengräben unter russischem Artilleriebeschuss auf den Befehl zum Angriff warteten, aber auch in der Bevölkerung. Viele Ukrainer haben Freunde und Verwandte in Cherson, die seit Kriegsbeginn unter russischer Besatzung lebten.
Wenn es Kontakt per Telefon gab, dann waren die Nachrichten erschreckend. Der russische Geheimdienst suchte gezielt nach prorussischen Aktivisten, Menschen verschwanden spurlos. Demonstrationen gegen die Besatzer wurden mit Schüssen aufgelöst und als weite Teile der Bevölkerung sich weigerten russische Hilfsgüter anzunehmen, wurden die örtlichen Supermärkte nicht mehr versorgt.
Auch vor diesem Hintergrund versuchte die ukrainische Armee auf kreative Weise, Verständnis für ihre militärische Strategie der Zurückhaltung zu schaffen: Auf die Frage, wann denn mit einer Rückeroberung von Cherson zu rechnen sei, antwortete Presseoffizier Oleg vor einigen Wochen vor laufender Kamera: Dazu könne er nichts sagen - Pause - es folgte ein Biss in die Melone.
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