: Entsetzen in Berlin über Macrons Eigentor

von Daniel Pontzen
01.07.2024 | 16:20 Uhr
Dem wichtigsten EU-Partner droht eine politische Blockade - wenn nicht Schlimmeres. Dass all dies auch noch selbstverschuldet ist, erzürnt in Berlin viele.

Nach der 1. Runde der vorgezogenen Parlamentswahl ist die Rechtsaußen-Partei von Marine Le Pen mit 33 Prozent klarer Sieger. Macrons Mitte-Lager kam mit 20 % nur auf Platz 3.

01.07.2024 | 01:32 min
Bei der SPD gab es mal ein ähnliches Unglück. Als einem kurzen Moment der Freude über die eigene Courage ein Nachgeschmack folgte, der nicht nur sehr bitter war, sondern vor allem sehr langanhaltend: 16 Jahre etwa.
2005 war der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) nach einer verlorenen Landtagswahl der Meinung, es sei eine gute Idee, Neuwahlen im Bund abzuhalten. Er irrte. Ganz so, wie der französische Präsident Emmanuel Macron jetzt.
Im Willy-Brandt-Haus, aus dem damals die Schockwellen durchs Land gingen, versucht nun Saskia Esken dem Malheur in Paris auch Positives abzugewinnen: Ja, 35 Prozent hätten Marine Le Pen gewählt.
Aber das bedeutet auch, 65 Prozent haben nicht die Rechtsradikalen gewählt.
Saskia Esken, SPD

Nach der ersten Runde der Parlamentswahl liegen die Rechtsnationalen vorn. Die anderen Parteien ringen nun darum, eine Regierungsmehrheit des ultrarechten Lagers zu verhindern.

01.07.2024 | 02:02 min

Macron hat ein Eigentor geschossen

Dennoch dürfe das Ergebnis "nicht länger nur als Warnschuss für die demokratischen Kräfte in Europa gesehen und verstanden werden", vielmehr sei "die rechte Gefahr allgegenwärtig".
"Der Coup des Verlierers", titelte damals, 2005, die Süddeutsche Zeitung, schon bald aber war nicht mehr viel von Coup die Rede, stattdessen sehr viel von Eigentor. So auch jetzt. Besonders schmerzhaft aus Betroffenenperspektive: dass es jeweils ein Eigentor ohne Not war - kein unvermeidbares, sondern, um im Bild zu bleiben, ein geradezu zelebriertes: ein Fallrückzieher ins eigene Tor, in hohem Bogen.

FDP nennt Macron "unklug"

In Berlin ist vielerorts die Sorge spürbar, inwieweit die Entwicklung in Frankreich die Tektonik der EU-Politik stören oder gar destabilisieren könnte. Dass der deutsche Regierungssprecher Montagmittag trotzdem von einem "ganz normalen demokratischen Vorgang" spricht, dürfte einer Mischung aus Pragmatismus und gebotener Neutralität geschuldet sein. Schließlich wird Paris wichtigster Verbündeter bleiben. Müssen.
Etwas weniger diplomatisch ist man in den Parteizentralen. Der Generalsekretär der FDP, Bijan Djir-Sarai, sagt:
Ich habe die Entscheidung des französischen Präsidenten schon vor drei Wochen für falsch gehalten.
Bijan Djir-Sarai, FDP
Djir-Sarai ergänzt für eben diese Entscheidung noch das Prädikat "unklug". In seltener Eintracht heißt es vom Parteichef der Grünen, Omid Nouripour: "Es ist offensichtlich, dass Macron ein Kalkül hatte" - und auch wenn es ihm nicht zustehe, das zu bewerten: Das Ergebnis sei "nicht so, dass man das Gefühl hat, sein Kalkül ist aufgegangen". Vielmehr sei es "sehr besorgniserregend".

In der ersten Runde der Parlamentswahl in Frankreich liegt der extrem rechte Rassemblement National (RN) vorne. "Die Partei ist in den Wahlkreisen stark verankert", so Frankreich-Expertin Ronja Kempin (SWP).

01.07.2024 | 04:17 min

CDU: Beziehungen "stark belastet"

Aus der Opposition gab es - in Teilen zumindest - ähnliche Töne. "Das wird natürlich das deutsch-französische Verhältnis fundamental verändern", sagte der Generealsekretär der CDU, Carsten Linnemann, mit Blick auf ein Szenario, in dem Marine Le Pens Partei eine absolute Mehrheit erringt. Er verbat sich eine vorschnelle Prognose. "Aber", so Linnemann, "es wird einfach die Beziehung zu Frankreich sehr stark belasten."
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) äußerte sich amtsangemessen chefdiplomatisch:
Deutschland und Frankreich tragen eine besondere Verantwortung für unser gemeinsames Europa.
Annalena Baerbock, Grüne
Und weiter: "Es kann niemanden kaltlassen, wenn bei uns selbst zum Beispiel bei der Europawahl oder bei unserem allerengsten Partner und besten Freund eine Partei weit vorne liegt, die in Europa das Problem und nicht die Lösung sieht."

Macron hat wohl eigenen Abgang eingeläutet

Wie drastisch die Konsequenzen für Macron und seine Partei ausfallen werden, ist noch nicht absehbar. Die SPD musste seinerzeit infolge der Fehleinschätzung Gerhard Schröders 16 Jahre lang auf das Kanzleramt verzichten, selbst ein testosterongeladener Auftritt am Abend der Bundestagswahl hatte das nicht mehr abwenden können.
Eine weitere Parallele zu heute: Mit der Fußball-WM 2006 stand auch damals ein sportliches Großereignis bevor - nicht wenige gehen davon aus, dass die Stimmung im Land und die seinerzeit einsetzende wirtschaftliche Entwicklung Schröder eine weitere Amtszeit beschert hätten.
In Paris beginnen in Kürze die Olympischen Spiele. Da es sich in Frankreich ja um die Parlaments- und nicht um die Präsidentschaftswahl handelt, wird Emmanuel Macron das Event wohl noch in Amt und Würden begleiten. Seinen eigenen Abgang aber hat er nun bereits selbst - wie seinerzeit Schröder - allem Anschein nach eingeläutet.

Das Bündnis der Linken und das Macron-Lager tun sich schwer mit einer Zweckgemeinschaft gegen den Rassemblement National. Warum? Das erläutert ZDF-Korrespondent Thomas Walde.

01.07.2024 | 01:26 min
Daniel Pontzen ist Korrespondent im ZDF-Hauptstadtstudio.

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